von Maria Müller
Die Lage in Brasilien spitzt sich zu, nachdem in 26 von 27 Bundesstaaten rund 45 Millionen Arbeitnehmer dem Streikaufruf der Gewerkschaften folgten. In 380 Städten und Gemeinden des größten lateinamerikanischen Staates gab es Protestaktionen.
Die 12 Gewerkschaftszentralen mobilisierten in geschlossener Front gegen die Wirtschaftspolitik, die Rentenreform, die Zerstörung des öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystems und den Abbau der Arbeits- und sozialen Rechte. Die Studenten, Lehrer und Professoren sowie die Angestellten im Erziehungsbereich, die bereits am 15. und 30. Mai jeweils über eine Million Menschen in 200 Städten mobilisieren konnten, unterstützten die Proteste.
Des Weiteren schlossen sich zahlreiche soziale und kulturelle Bewegungen an, um gegen die rassistische, sexistische und umweltfeindliche Politik der Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro zu protestieren. Am 29. Mai haben die LKW-Fahrer einen landesweiten einwöchigen Streik gegen überhöhte Benzinpreise beendet.
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Die neuen Enthüllungen über das von Justizminister Sérgio Moro angeführte Komplott gegen den inhaftierten früheren Präsidentschaftskandidaten Lula da Silva brachte auch einen Teil der Bolsonaro-Wählerschaft auf die Straße. Der Fall Moro löste eine neue Regierungskrise aus. Die Popularität des Präsidenten fiel in den ersten fünf Monaten seiner Amtszeit um 20 Prozentpunkte auf 36 Prozent ab.
"In Brasilien bemüht sich die Regierung von Bolsonaro um die Zerstörung unserer Arbeitsrechte, einschließlich des Rechts auf eine angemessene Rente! Wir sind gegen die Rentenreform!”, verlautbarte Vagner Freitas, der Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes CUT, auf der Kundgebung in São Paulo. Weiter sagte er:
Mit einer volksfeindlichen Wirtschaftspolitik und einem äußerst konservativen und voreingenommenen ideologischen Programm stürzt Bolsonaro das Land in Arbeitslosigkeit, Hunger, Elend und einen Mangel an Gesundheit, Bildung und Sicherheit.
In den Hauptstädten von 19 Bundesstaaten war das öffentlichen Verkehrswesen blockiert, Metros, Busse und Eisenbahnen standen still, Autobahnen und Verkehrskreuze wurden besetzt. Nach Angaben der Gewerkschaftszentralen kam es auch in Häfen, Raffinerien, der Metallindustrie, bei Banken, bei der Post und an Universitäten zum Stillstand. Auf einer Veranstaltung vor dem Nationalen Institut für soziale Sicherheit (INSS) erklärte Freitas die Position der CUT zur Rentenreform des Wirtschaftsministers Paulo Guedes:
Die Regierung versucht, die Sozialversicherung aufzulösen, um sie durch ein Kapitalisierungssystem zu ersetzen und an die Banken zu verkaufen. Die Gewerkschaftszentralen werden nicht über den Entzug von Arbeitnehmerrechten diskutieren. Wir wollen eine allgemeine, breite und öffentliche soziale Sicherheit!
In einigen Großstädten kam es zu heftigen Repressionsmaßnahmen seitens der Polizei. In São Paulo unterdrückte die Militärpolizei eine Kundgebung von Studenten, Professoren und Beamten vor der Universität mit Gummigeschossen und Tränengas. Sie verhaftete 15 Studenten ohne Angabe von Gründen, es gab mehrere Schwerverletzte. Auch in Rio de Janeiro wurde eine Demonstration von 100.000 Teilnehmern von einem starken Polizeikontingent angegriffen.
Wachsender Unmut gegenüber Bolsonaro
Die Regierung Bolsonaros verwickelt sich immer mehr in Widersprüche. Bisher konnte sie kaum eines ihrer großspurigen Wahlversprechen auch nur ansatzweise verwirklichen. Vor allem die Wirtschaft ist weiterhin auf Talfahrt. Das angekündigte Wachstum von 2,2 Prozent fiel bereits auf 1,7 Prozent zurück. In Brasilien sind 13 Millionen Menschen arbeitslos. Die angekündigten ausländischen Investitionen, die nach einer Reduzierung der Löhne und der Aufweichung der Arbeits- und Sozialrechte laut Regierung mit Sicherheit ins Land kommen würden, bleiben aus.
Die internen Widersprüche in der Regierungsriege sind nicht zu verbergen. Mehr als einmal korrigierten Minister öffentlich die Aussagen des Präsidenten innerhalb weniger Stunden als "Irrtum", "Missverständnis" oder "Alleingang".
Der Finanzminister Paulo Guedes drohte bereits mit Rücktritt und seiner Auswanderung, falls seine Rentenreform nicht durchkommt oder verwässert wird. Diese trifft nicht nur auf den wachsenden Widerstand in der Bevölkerung, sondern stößt auch bei immer mehr Parlamentariern auf Ablehnung.
Als der Sekretär des Finanzministeriums Marcos Cintra eine neue Steuer auf alle Finanztransaktionen, einschließlich jener der evangelischen Sekten ankündigte, widersprach ihm Bolsonaro am folgenden Tag energisch in einem Video.
Die kürzlich vom Obersten Gericht getroffene Entscheidung, Homophobie und das Diskriminieren von LGBT-Personen genauso wie Rassismus unter Strafe zu stellen, wird von Bolsonaro kritisiert. Er erwägt nun, einen evangelischen Richter in das höchste Justizorgan zu berufen. Im Jahr 2017 wurden in Brasilien 387 Homosexuelle und und "Trans"-Personen ermordet.
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Die legale Bewaffnung der Zivilbevölkerung mit "scharfen" Handfeuerwaffen anlässlich der hohen Kriminalitätsrate wird gegenwärtig von 70 Prozent der Brasilianer abgelehnt. Bolsonaros angekündigter Krieg gegen das Verbrechen zeigt widersprüchliche Ergebnisse. Polizei und Militär geraten häufig inmitten belebter Straßen in Schusswechsel mit Mafiagruppen, wobei meist Unschuldige auf der Strecke bleiben, häufig Kinder und Jugendliche. Im Jahr 2018 starben so 521 Personen. Im laufenden Jahr ging die Mordrate zwar um 24 Prozent zurück, doch gleichzeitig wuchs die Rate der von der Polizei Getöteten um 18 Prozent.
Indessen nehmen Informationen zu, laut denen Paramilitärs in den Indianergebieten straflos Menschen töten, um den Weg für die neuen Großgrundbesitzer und Agro-Konzerne freizumachen, die den Amazonaswald kahlschlagen. Die ärztliche Versorgung auf dem Land in schwer zugänglichen Gebieten ist zusammengebrochen, nachdem die kubanischen Ärzte das Land verlassen mussten.
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Der Sohn des Präsidenten, Flavio Bolsonaro, ist seit Beginn des Jahres Gegenstand einer Untersuchung wegen Geldwäsche und dem verheimlichten Besitz von rund 30 Immobilien im Wert von drei Millionen US-Dollar. Doch seine Immunität als Abgeordneter schützte ihn bislang vor einem Gerichtsverfahren. Der proklamierte Kampf der Bolsonaros gegen die Korruption wird für viele Brasilianer immer unglaubwürdiger.
Aufgedecktes Komplott setzt Regierung unter Druck
Doch der schwerste Schlag gegen Bolsonaros Regierung ist das aufgedeckte Komplott unter der Regie seines Justizministers Sérgio Moro. Das Enthüllungsportal The Intercept legte offen, dass es im Fall des Ex-Präsidenten Lula da Silva eine Verschwörung gegeben hat, in die Moro als damaliger Richter, die Staatsanwaltschaft und der Oberste Gerichtshof verwickelt waren. Aus politischen Motiven wurden die Prozessordnung und Beweismittel manipuliert – stets unter Anweisung des Richters Moro. Bestimmte Mainstreammedien standen im direkten Kontakt mit ihm und unterstützten mit entsprechenden Meldungen seine Prozessstrategie.
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Die Inhaftierung da Silvas ist nun als politisches Manöver entlarvt, um dessen Wiederwahl zu verhindern. Der Prozess ist wegen Befangenheit des Richters und der Staatsanwälte juristisch ungültig. Damit steht auch die Legitimität der Präsidentschaftswahlen vom Oktober 2018 in Frage, denn da Silva lag als Kandidat der Arbeiterpartei in den Umfragen weit vorn - Bolsonaro lag abgeschlagen hinten. Erst die von Moro angeordnete Verhaftung und das anschließende Gerichtsurteil, bei dem der linke Ex-Präsident zu 12 Jahren Haft verurteilt wurde, verhinderten da Silvas Antritt zur Wahl.
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Nach den Maßstäben eines Rechtsstaates müsste er sofort freikommen und die Wahlen müssen wiederholt werden. Entsprechende Anträge der Verteidiger sind bereits gestellt.Doch welches Gericht hat das letzte Wort, da der Oberste Gerichtshof an der Verschwörung teilnahm?
Allein die Tatsache, dass Moro und der wichtigste Staatsanwalt in dem Verfahren, Deltan Dallagnol, während des Untersuchungsverfahrens heimlich miteinander in einem Chat kommunizierten, ist von der Verfassung und dem brasilianischen Strafrecht verboten. Der Staatsanwalt zeigte sich außerdem über die Haltlosigkeit beziehungsweise Schwäche der Anschuldigungen gegen da Silva besorgt. Daraufhin verstärkte Richter Moro durch verbündete Medien den Narrativ von der Schuld da Silvas. Dallagnos teilte ihm in dem Chat dann mit, dafür dankbar zu sein.
Die Affäre zeigt ihre Wirkung in der brasilianischen Bevölkerung, aber auch in den Reihen der Anhänger Bolsonaros. The Intercept erklärte, dass die bisherigen Veröffentlichungen erst der Anfang seien. Man hätte eine Menge weiterer Materialien, die gerade analysiert würden. Zu den Gründern von The Intercept Brasil zählt der Journalist Glenn Greenwald, der im Jahr 2013 die von Edward Snowdon entdeckten Programme der NSA zur massive Überwachung der Bevölkerung veröffentlichte.
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