von Maria Müller
Über eine Woche lang dauerte der Stromausfall in Venezuela. Er legte einen Großteil des Transports, der Kommunikation, der Produktion, der öffentlichen Verwaltung und des Erziehungswesens lahm. Die Grundversorgung der Bevölkerung wurde stark beeinträchtigt. Es war der bisher längste Black-Out in Südamerika. Nur eine dreitätige Strompanne in Panama, pünktlich zum Papstbesuch im Januar, hatte vergleichbare Auswirkungen. In beiden Fällen litten in der Folge auch Nachbarländer unter dem Ausfall.
Die Regierung Venezuelas bezeichnete die Cyber-Attacke am 9. März als den schwersten Angriff, den das venezolanische Volk in den vergangenen 200 Jahren erlitten hat. Sie berichtete von mehreren aufeinander folgenden digitalen Angriffen auf das elektronische Steuerungssystem des größten Wasserkraftwerkes Venezuelas: Guri. Dadurch seien erneut fast vollständig abgeschlossene Reparaturen plötzlich wieder zunichte gemacht worden, und das Energiesystem sei erneut zusammengebrochen.
Zusätzlich gab es Sprengstoffanschläge auf zentrale Umschaltstationen, die ebenfalls zu erneuten Rückschlägen führten. Zeitgleich brannten mehrere riesige Reservetanks auf einer Ölförderanlage aus. Die Attentäter wollten zweifellos Angst und Chaos schüren.
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Das Gros der Mainstreammedien bemühte sich, die Vorgänge in Venezuela auf eine "schlampige Wartung" der elektrischen Infrastruktur, natürlich durch die Regierung von Präsident Nicolás Maduro, zurückzuführen. Aus der Entfernung ist es schwer zu beurteilen, inwieweit solche Defizite die Situation zusätzlich erschwert haben. Die venezolanische Webseite Mision Verdad erläutert dazu:
Das nationale Elektrizitätssystem ist durch eine explosive Mischung aus mangelnden Investitionen, verschärft durch die Finanzblockade, Verlust an technischem Fachpersonal durch Lohnminderung sowie durch Operationen systematischer Sabotage gefährdet, wobei letztere immer einsetzten, wenn der Chavismus die politische Offensive zurückerobert hatte". (Chavismus bezeichnet eine linke politische Strömung, die auf den Ideen von Maduros Amtsvorgänger Hugo Chávez basiert, Anm. d. Red.)
Doch diese Probleme können für sich alleine nicht die Dauer des Stromausfalls erklären. In den Jahren zuvor konnten zerstörte Umschaltstationen oder Stromleitungen innerhalb von Stunden oder eines Tages repariert werden. Ähnlich wie bei ähnlichen anderen Stromausfällen, die in den meisten südamerikanischen Ländern recht häufig passieren.
Präsident Nicolás Maduro erklärte in einer Fernsehansprache, dass John Bolton, der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, die Attacken gegen Venezuelas Energieversorgung angeordnet habe. Sie seien vom Cyber-Kommando des Pentagon (USCC) in Houston ausgeführt worden.
Maduro bat die Vereinten Nationen sowie Russland und China um Mithilfe, die Ursachen der Katastrophe herauszufinden. China erklärte sich bereit, die technischen Anlagen wiederherzustellen. Am 15. März verlas die russische Regierungssprecherin Maria Sacharowa eine Erklärung, in der sie eine externe Einflussnahme auf die Stromproduktion des Staudamms "Guri" bestätigte:
Der venezolanische Energiesektor erlitt einen Angriff aus dem Ausland. Es handelte sich um eine komplexe Aktion aus der Ferne, die darauf hindeutet, dass alle Betriebsalgorithmen und Schwachstellen der Ausrüstung dieser Systeme dem Organisator der Aggression gut bekannt waren.
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Der Experte Vladimir Adrianza Salas erklärte in einem Interview mit dem venezolanischen TV-Kanal TeleSur:
Um diese Anlage zu sabotieren, braucht man zwei Dinge: entweder man hat Zugang von außen, oder man hat interne Komplizen, um die Prozesse zu modifizieren.
Laut Mision Verdad findet sich des Rätsels Lösung im Zusammenhang mit der Firma ABB (ABB Venezuela, ABB Kanada, ABB Schweiz). Dieser internationale Konzern arbeitete vor rund 10 Jahren unter Hugo Chávez an einer digitalen Modernisierung des Guri-Wasserkraftwerkes. Das Unternehmen, das sich vor Jahren aus Venezuela zurückgezogen hat, kennt die internen Mechanismen und Kodifizierungen der Steuerungs- und Kontrollsysteme des Kraftwerkes.
Venezuela ist kein Einzelfall - NATO rüstet sich für Cyberkriegsführung
Ohne den Untersuchungsergebnissen vorgreifen zu wollen, müssen gewisse Fakten zumindest mit in Betracht gezogen werden: Ähnliche Angriffe wie gegen die Stromversorgung Venezuelas hat es in früheren Jahren bereits im Irak, im Iran und im Libanon gegeben. Auch dort waren die Stromausfälle systematisch und weitreichend, Reparaturversuche wurden immer wieder zunichte gemacht.
Zu Beginn des Syrienkrieges 2012 berichtete die RT-Autorin Karin Leukefeld von Angriffen und Sabotageaktionen gegen das landesweite Stromnetz und gegen Elektrizitätswerke. Sie führten in jenem Jahr zu schweren wirtschaftlichen Verlusten Syriens in Höhe von über 300 Millionen Euro. Bewaffnete Gruppen kappten gezielt Stromleitungen und sprengten Strommasten. Reparaturarbeiter wurden attackiert.
Derartige Angriffe auf die Energieversorgung eines Landes zählen heute erklärtermaßen zu den Zielen einer digitalen Kriegsführung der NATO. Verschiedene Verlautbarungen der letzten Jahre haben das verdeutlicht. Ende 2017 gab NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg den politischen Richtungswechsel im Konzept des Militärbündnisses bekannt. Digitale Waffensysteme werden von nun an nicht nur zu Verteidigungszwecken entwickelt. Man will sie auch verstärkt in offensiven Angriffen einsetzen. Christopher Painter, der Cyber-Verantwortliche unter dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama, hatte sich früher noch dagegen ausgesprochen, solche Schläge auf lebenswichtige Infrastrukturen anderer Länder durchzuführen.
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Die USA-Armee rekrutierte nach Worten des Generalleutnants Rhett Hernandez schon seit 2012 ein Heer von über 10.000 "Cyber-Soldaten". Diese IT-Experten haben seitdem ein weltweites Aktionsnetz geschaffen, bei dem der Übergang von der Verteidigung zum Angriff nur noch schwer zu trennen sein dürfte. Auch die NATO betreibt seit 2008 ein Cyber-Operations-Center in Estland, in dem digitale Waffen "erforscht" werden. Der Austausch von IT-Spezialisten der Mitgliedsstaaten zur gegenseitigen Unterstützung gehört zum NATO-Alltag. Auch Deutschland bietet sein Knwo-How dafür an. Das Hamburger Abendblatt schrieb dazu Ende Februar:
Briten und Amerikaner, aber auch die Niederlande, Estland und Dänemark stellen Bündnispartnern seit längerem ihre Cyberwaffen bei Bedarf zur Verfügung. Es soll etwa um das Hacken oder Ausschalten von Computernetzen gehen, um die Blockade von Mobilfunknetzen oder die Unterbrechung der Stromversorgung.
Dabei geht es nicht nur um die Verteidigung sondern auch um den Angriff auf die digital gesteuerten Versorgungseinrichtungen der Zivilbevölkerung anderer Länder als mögliches Kriegsszenario. Allerdings wird bislang auf den NATO-Treffen nicht offen diskutiert, dass die Zerstörung der Energiesysteme und damit auch der Trinkwasserversorgung eines Landes ein lebensgefährlicher Angriff auf die Zivilbevölkerung darstellt. Nicht auszudenken, was in einem Land mit Kernkraftwerken passieren würde, wenn dort der Strom unerwartet mehrtägig ausfallen würde.
Diese Art eines digitalen Krieges steht im krassen Gegensatz zum internationalen Kriegsrecht der Genfer Konvention. Demnach ist der Schutz der Zivilbevölkerung oberstes Gebot. Jens Stoltenberg gesteht dieses Problem sogar indirekt ein, denn seiner Meinung nach sollten Cyberwaffen "internationalem Recht" entsprechen. Andererseits fordert er dennoch am 8. November 2018 die Möglichkeit, "immer reagieren zu können, so wie wir es wollen..." Cyberattacken könnten "so viel Schaden anrichten und Menschenleben kosten wie andere Angriffe", so Stoltenberg laut Hamburger Abendblatt.
Bislang war der Begriff der "digitalen Waffen" für die meisten Menschen auch hierzulande sehr abstrakt. Nach dem, was in Venezuela geschah, wissen wir nun, welche katastrophalen Auswirkungen solche Waffen für ein Land haben können.
In Venezuela gab es tagelang kein Wasser, da die Aufbereitungsanlagen und Pumpen still standen. Radio, Fernsehen und Internet fielen aus. Die Zapfsäulen der Tankstellen funktionierten nicht, Omnibusse und Privatautos konnten also auch nicht fahren. Der U-Bahnverkehr stand still. Die Verkehrsampeln waren außer Betrieb. Auch die Infrastruktur der Polizei war nur begrenzt einsatzfähig. Schulen und Universitäten wurden geschlossen, Fabriken konnten nicht arbeiten, der Flugverkehr war fast vollständig eingestellt.
Kühlanlagen für Fleischwaren und Milchprodukte waren ebenfalls außer Betrieb. Eine Ernährungskrise größeren Ausmaßes bahnte sich an. Die Krankenhäuser hatten zwar Notaggregate, doch einige der Apparate waren defekt. In der Folge starben Menschen, weil sie entweder nicht operiert werden konnten oder weil die Dialysegeräte nicht arbeiteten. Sind solche Attacken nicht sehr wohl als militärische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung zu bewerten – und folglich nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen zu qualifizieren?
Kolumbien arbeitet mit NATO bei Cyberkriegsführung zusammen
Zum Schluss sei die Rolle Kolumbiens im Zusammenhang eines möglichen Cyberangriffs gegen Venezuela erwähnt. Kolumbiens früherer Präsident, Juan Manuel Santos, erläuterte im Mai 2018 öffentlich den Assoziierungsvertrag Kolumbiens mit der NATO und erklärte:
Kolumbien wird nicht an militärischen Operationen der NATO teilnehmen. Doch wir werden im Bereich der Cyber-Kriegsführung zusammenarbeiten.
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Bislang hat kein lateinamerikanisches Land je die Möglichkeit einer digital gesteuerten Aggression gegen ein Nachbarland in Betracht gezogen. Kolumbien wird von keiner ausländischen Macht militärisch bedroht. Man muss daraus schließen, dass ein solches Interesse einzig und allein gegen Venezuela gerichtet sein kann – was durchaus zu der enormen Aufrüstung Kolumbiens mit konventionellen Kriegswaffen passt.
Kolumbiens Militär besitzt heute eigene Zentren zur Ausbildung von Cyber-Soldaten. Offiziere und Unteroffiziere qualifizieren sich in verschiedenen NATO-Ländern wie Estland und den USA. Die "Abteilung für Kommunikation und digitale Verteidigung" (Cede-6) besteht aus 20 hochspezialisierten Experten, die in der Lage sind, eigene militärische Softwareprogramme zu entwerfen und zu 99 Prozent unangreifbar zu machen. Diese Abteilung bereitet "defensive" und "offensive" digitale Einsätze vor. Ihr Chef, José Luis Barrera, erklärte im Juli vergangenen Jahres, dass dazu auch Übungen im Bereich des "Energiesektors und der Banken" gehörten. "Der Kampf im Cyberbereich ist ein Kampf ohne Grenzen", betonte Barrera.
Ob die kolumbianischen Cyber-Militärs in die Attacken gegen Venezuela tatsächlich involviert waren, auch das müssen die derzeitigen Untersuchungen zeigen.
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