von Maria Müller
Das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen begann in Lateinamerika verstärkt in den 1970er und -80er Jahren mit den Diktaturen in Chile, Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay. Damals wurden insgesamt 90.000 Bürger brutal verschleppt. Kolumbien stellt in dieser Frage auch heute noch die Diktaturen fast in den Schatten: Im Jahr 2018 werden dort 73.000 Personen vermisst. Diese Ziffern stellte das Nationale Institut für Rechtsmedizin und Forensik zur Verfügung.
Zum Internationalen Tag der Verschwundenen am 30. August präsentierte dessen Direktor Carlos Valdés eine aktuelle Untersuchung. Demnach sind zwischen 2008 und 2018 in Kolumbien 73.000 Menschen verschwunden, darunter 27.229 Jugendliche unter 18 Jahren. Allein in der ersten Jahreshälfte 2018 wurden 3.643 Fälle von Verschleppungen registriert. Von den entführten Personen wurden 37 Prozent ermordet aufgefunden, während 60 Prozent weiterhin verschwunden sind.
Die Zahl der Vermissten unterscheidet sich in Kolumbien stark, je nach Informationsquelle. Die Generalstaatsanwaltschaft spricht von 45.000 Vermisstenanzeigen, das Nationale Zentrum für Geschichtserinnerung zählt heute über 84.000 Opfer (seit 1958), die Botschafterin Kolumbiens vor der UNO in Genf sprach 2016 von über 82.505 Fällen.
Die offiziellen Zahlen besagen, dass es insgesamt über acht Millionen Opfer des internen Krieges gibt, darunter 7,4 Millionen Binnenflüchtlinge. Davon leben 60 Prozent in Armut. Das diesen Menschen geraubte Land beträgt sieben Millionen Hektar. Kolumbien steht mit solchen Dimensionen an menschlichem Leid weltweit an erster Stelle.
Doch ohne ein Wort der Selbstkritik zu verlieren, bezichtigen die Präsidenten Kolumbiens, der kürzlich aus dem Amt geschiedene Juan Manuel Santos und dessen Nachfolger Iván Duque fast täglich Venezuela wegen Menschenrechtsverletzungen, das nicht annähernd ein solches humanitäres Drama vorweist.
Bogota hintertreibt Aufklärung
Im Friedensabkommen mit der FARC wurde vereinbart, die Kommission für die Suche nach verschwundenen Personen (UBPD) zu schaffen. Zwei Jahre danach ist sie immer noch nicht handlungsfähig. Es fehlt an Personal und Geld. Marina Monzón, Leiterin der neuen Institution, beklagt, es dauere zu lange, bis der Finanzminister die entsprechenden Mittel freigebe. Christoph Harnisch, der Chef der Delegation des Roten Kreuzes in Kolumbien, kritisiert das Verzögern der Arbeit:
Fast zwei Jahre nach dem Abschluss des Friedensvertrages ist das einfach nicht zu rechtfertigen. Das fügt den Angehörigen der Opfer noch mehr Leid zu.
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Javier Barra, Mitglied der Angehörigenorganisation der Inhaftierten Verschwundenen, urteilt:
Der Staat hält sich nur teilweise für verantwortlich, er verzögert das Vorgehen der Behörden, die Opfer können oft nur unter Schwierigkeiten Zugang zur Justiz finden. Wenn Polizei und Militärs in die Fälle verwickelt sind, gibt es wenig Chancen, dass überhaupt eine Untersuchung stattfindet. Und wenn man den Körper nicht findet, ist eine Verurteilung von Tätern praktisch unmöglich. Viele Betroffene haben immer noch Angst vor Repressalien durch die Täter und schweigen. In mehreren Fällen wurden Familienangehörige ebenfalls verschleppt, nachdem sie als Zeugen vor der Justiz aussagten. Solange die Vermissten nicht gefunden werden, haben die Täter wenig zu befürchten. Das ist der Hintergrund für die zweite Stufe des Verschwindenlassens in den Amtsstuben und in Gerichtsarchiven.
Die UN-Kommission gegen Verschleppungen forderte Kolumbien im Jahr 2016 dringend auf, innerhalb eines Jahres die staatliche Datenbank zu vereinheitlichen und die Opferzahlen zu klären. Denn im "Einheitsregister der Opfer" seien alle Fälle unterschiedslos aufgenommen. "Man weiß nicht, ob sie gewaltsam entführt wurden, ob es sich um außergerichtliche Hinrichtungen handelt, ob sie im Rahmen des bewaffneten Konfliktes oder aus anderen Gründen verschwanden", so Rainer Huhle, Mitglied der UNO-Kommission.
Im März 2018 informierte nun die Nationale Kommission für Geschichtserinnerung, dass rund die Hälfte der Fälle zugeordnet werden können. Die UN verlangte außerdem, dass die Archive des Militärs und der Polizei für Nachforschungen geöffnet werden, um die Straflosigkeit zu beenden. Zwei Jahre danach wird dieser Schritt nun zwar teilweise verwirklicht, aber auch teilweise umgangen. Die Archive befinden sich gegenwärtig in Händen der Staatsanwaltschaft. Laut der Regierungsverordnung Nr. 588/17 müssen alle staatlichen Institutionen nun die von der Wahrheitskommission geforderten Informationen aushändigen.
Wahrheitskommission mit beschränkten Befugnissen
Diese Wahrheitskommission ist nur für drei Jahre aktiv. Sie darf gerichtsverwertbare Erkenntnisse aus den Akten nur zum geschichtlichen Aufarbeiten des internen Krieges nutzen, nicht für Gerichtsverfahren. Die Sonderjustiz für den Frieden darf weder Beweise noch Zeugenaussagen von der Wahrheitskommission erhalten. Sie ist zu strengstem Stillschweigen verpflichtet.
Der damals amtierende Präsident Santos erlaubte die Herausgabe der Archive nur unter der Bedingung, dass keine Staatsinteressen berührt werden. Ein bekanntermaßen dehnbarer Begriff. Damit wird der Aufforderung durch die UN in der Essenz nicht Folge geleistet: nämlich durch das Öffnen der Militär- und Polizeiarchive die Straflosigkeit zu überwinden.
Laut Francisco de Roux, Präsident der Kommission, haben inzwischen Regierung, Militärs, Guerilla, Paramilitärs, Unternehmer, Opfer, Bauern und Indigene akzeptiert, alle Dokumente und Informationen der Wahrheitskommission zu übergeben.
Ende Juni wurde mit der neuen Mehrheit im Parlament die Verfahrensregeln für die Sonderjustiz verabschiedet. Doch im gleichen Atemzug hat man entschieden, dass in den kommenden 18 Monaten staatliche Akteure, Beamte, Polizei und Militär, nicht verurteilt werden dürfen. Man will für diese Angeklagten ein Sondergericht innerhalb der Sonderjustiz für den Frieden einrichten. Das widerspricht dem vereinbarten Friedensvertrag. Die Vereinten Nationen hatten zuvor an den kolumbianischen Kongress appelliert, diese Änderung zu unterlassen.
Der Internationale Strafgerichtshof beobachtet das Vorgehen in Kolumbien. Er bekundete, künftig Fälle zu übernehmen, die von der Justiz in diesem südamerikanischen Land unangemessen behandelt werden.
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