von Maria Müller
In Kuba entwickelt sich seit Wochen eine verfassunggebende Versammlung zu einem Diskussionsprozess quer durch das Land. In Fabriken, Universitäten, Stadtvierteln, Ämtern, Dörfern, Kasernen und Schulen liest, studiert, befragt, denkt und kritisiert das kubanische Volk gemeinsam seine neue souveräne Verfassung. Der Staat will sich modernisieren, die bisherige Verfassung ist 40 Jahre alt und stammt noch aus den Zeiten des Kalten Krieges. Für europäische Verhältnisse eine völlig ungewöhnliche Erfahrung.
Man vergleiche: Das deutsche Grundgesetz wurde vor 70 Jahren von einer Gruppe ausgewählter Politiker erarbeitet, die jeden einzelnen Artikel den damaligen Besatzungskräften zur Absegnung vorlegen mussten. Es hat noch nie eine Volksbefragung darüber gegeben.
Es hat keinen Sinn, eine Verfassung und Gesetze zu erlassen, die dann nicht eingehalten werden. Nur ein breiter Konsens kann später auch garantieren, dass die Menschen sich daran halten und die Verfassung verteidigen", so der kubanische Abgeordnete Arnaldo Tamayo.
Das Bemühen um einen Konsens in den großen Fragen der Gesellschaft schafft eine Grundlage für die innere Stabilität Kubas. Der vom Volk überarbeitete Verfassungstext soll im November erneut vom Parlament verabschiedet werden. Hier zeigt sich ein Unterschied zu den meisten westlichen Demokratien: Die direkte Volksbefragung ist der parlamentarischen Entscheidung bei großen Themen vorgeschaltet. Schlussendlich wird im April 2019 in einem Referendum über die neue Verfassung abgestimmt.
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Nicht zum ersten Mal gibt es solche partizipativen Prozesse auf der Insel. Auch die neuen Wirtschaftsrichtlinien wurden vor sieben Jahren in dieser Form auf den Weg gebracht.
Kollektive Führung an der Staatsspitze
Wenn man sich in die 30-seitige, großformatige Verfassungszeitung vertieft, hat man den Eindruck, dass hier ein moderner demokratischer Staat mit den auch uns bekannten Rechtsgarantien geplant wird. Man will des Weiteren Elemente der Privatwirtschaft und des Privateigentums einführen und gleichzeitig die Exzesse des Raubkapitalismus verhindern (Art. 20 ff.).
An der Staatsspitze sind bedeutende Veränderungen vorgesehen. Eine kollektive Führung wird vorgeschlagen. Bisher vereinigte der Staatspräsident auch die Rolle des Vorsitzenden des Ministerrates und des Staatsrates auf sich. Nun wird es einen Staatspräsidenten geben, einen Premierminister und einen Präsidenten des Staatsrates und des Parlaments. Man nimmt an, dass der Staatspräsident mehr Macht haben wird als beispielsweise der Ministerpräsident, der für die tägliche Regierungsarbeit zuständig sein soll. Außerdem können politische Mandatsträger nur noch für zwei fünfjährige Amtsperioden gewählt werden.
Eigentumsformen werden neu geregelt
Im Text werden Formen des Eigentums benannt: das Staatseigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln (Staatsbetriebe), die Kooperativen und ihr Gemeinschaftsbesitz, gemischter Privatbesitz (privat-staatlich oder kubanisch-international); Eigentum von Gewerkschaften und Massenorganisationen; Privatbesitz in speziellen Bereichen (Landwirtschaft, Dienstleistungen); Eigentum an Häusern, Fahrzeugen, Land und anderen Gütern; wobei es keine extreme Konzentration an Besitztümern geben soll, weil es dem Grundgedanken der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit widersprechen würde.
Zum Gemeineigentum heißt es in Artikel 23:
Das sozialistische Eigentum des Volkes erstreckt sich auf alles Land mit Ausnahme der oben genannten Eigentumsformen; vor allem auf die Bodenschätze und deren Förderanlagen, auf die natürlichen Ressourcen, Wälder, Wasser und auf das Straßennetz.
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Der Grundbesitz wird in Artikel 29 speziell reguliert:
Sein Verkauf oder die Weitergabe unterliegt bestimmten gesetzlichen Regeln; Land darf weder vermietet noch verpachtet, auch nicht für Hypotheken oder sonstige Aktionen verwendet werden, die Auflagen oder Besteuerungen nach sich ziehen.
Der Boden- und Immobilienspekulation wird eine Grenze gesetzt; der Boden soll produktiv verwendet werden, vor allem für die Landwirtschaft.
Ein Punkt fiel mir auf: "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" heißt es da. Dafür kämpfen die Frauen im Westen seit über hundert Jahren - vergeblich! In Kubas Politik spielen Frauen eine starke Rolle, sie nehmen im Parlament 53 Prozent der Sitze ein. Der sozialistische Inselstaat nimmt in Sachen Frauenbeteiligung damit weltweit einen der Spitzenränge ein.
Die Rechte sexueller Minderheiten sollen ebenfalls in die Verfassung einfließen. Jede Form von rassistischer, religiöser oder politischer Diskriminierung ist verboten. Innerfamiliäre Gewalt ist strafbar. Die Verfassung garantiert Menschenrechte, politische und zivile Rechte. In diesem Sinne werden humanitäre oder sonstige Normen aus ratifizierten internationalen Konventionen in die kubanische Verfassung übernommen.
Kostenlose Grundversorgung garantiert
Des Weiteren geht es um eine kostenlose Erziehung vom Kindergarten bis zur Universität; um die (hervorragende) kostenlose medizinische Versorgung; um das Recht auf Sozialschutz für alle Arbeitenden, die aus Altersgründen, wegen Schwangerschaft, Krankheit oder Behinderung nicht arbeiten können. Die Arbeitszeit basiert auf der Acht-Stunden-Regelung, mit freiem Wochenende und Urlaubsgeld. Ausnahmen müssen gesetzlich abgesichert sein.
Die Bürger haben ein Recht auf Trinkwasserversorgung und Ernährungssicherheit; der Staat ist zum Umweltschutz verpflichtet.
Die Verwaltung soll dezentralisiert werden, wobei man nun Berufsbeamten den Vorzug gibt, die nach ihrer technischen Qualifikation ausgewählt werden sollen. Nur noch politische Aufgaben bieten wählbare und abwählbare Stellen. In den Verwaltungsbezirken werden die Wahlperioden von zweieinhalb auf fünf Jahre heraufgesetzt.
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