Von Ricardo Vaz
Die Frage der Demokratie
Gleich zu Beginn ist es wichtig, etwas klarzustellen: Die venezolanischen Wahlen waren nicht "frei und fair". Das ist unmöglich in einem Land, das unter einer brutalen Blockade steht, einem unaufhörlichen Wirtschaftsterrorismus, der ein Projekt bestraft, das sich dem neokolonialen Diktat Washingtons nicht beugen wollte. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass die Venezolaner mit vorgehaltener Waffe zu den Wahlen gegangen sind.
Um sich gegen den US-geführten Imperialismus und seine Medienartillerie zu wehren, muss man sich zunächst einmal dieses äußerst ungleiche Spielfeld bewusst machen. Auch wenn die jüngste Wahl Fragen aufwirft, ist es intellektuell und politisch unredlich, sich auf die Kontroverse um die Wahlen zu konzentrieren und dabei den Kontext der hybriden US-Kriegsführung zu ignorieren oder herunterzuspielen. Zweitens geht es im Kern der Bolivarischen Revolution um Demokratie. Aber es geht um ein tieferes, substanzielleres Konzept von Demokratie, das weit über das gelegentliche Wählen von Vertretern auf verschiedenen Ebenen hinausgeht.
Stattdessen gab es in Venezuela in den letzten 25 Jahren eine Reihe von revolutionären Experimenten mit basisdemokratischen Versammlungen, wobei die Kommune deren am weitesten fortgeschrittener Ausdruck ist. Nach dem Konzept von Hugo Chávez sind die Kommunen die "Elementarzellen" für den Aufbau des Sozialismus als Selbstverwaltungen in den Territorien. Obwohl die Volksmacht in den letzten Jahren mit vielen Herausforderungen und Rückschlägen konfrontiert war, hat sie auch beeindruckende Fortschritte gemacht und bleibt voller Potenzial für die Neugestaltung der Gesellschaft.
Die Reaktion Washingtons
Nachdem der Nationale Wahlrat (CNE) Maduro zum Sieger erklärt hatte, war die Reaktion aus den Vereinigten Staaten nur allzu vertraut - mit Regierungsvertretern, die sich berechtigt fühlten, im Namen "des venezolanischen Volkes" zu sprechen. Die Hardliner-Opposition verkündete ihren eigenen Sieg und da konnte Außenminister Antony Blinken nicht anders, als den ultrarechten Kandidaten Edmundo González als "gewählten Präsidenten" anzuerkennen. Das erinnerte an die berüchtigte "Interimspräsidentschaft" von Juan Guaidó erinnerte. In späteren Erklärungen wurde die Anerkennung teilweise zurückgenommen, aber dennoch ein "Übergang" betont und die regionalen Vermittlungsbemühungen von Brasilien, Kolumbien und Mexiko unterstützt.
Von offenen Putschversuchen und Wirtschaftssanktionen bis hin zu Desinformation in den Medien und der Finanzierung von NGOs waren die Bemühungen der USA um einen Regime-Change in den letzten 25 Jahren eine Konstante, insbesondere seit dem Tod von Hugo Chávez im Jahr 2013. Im Vorfeld der Wahl hatten die Konzernmedien González bereits zum Sieger erklärt, während anonyme US-Beamte davon sprachen, die Sanktionen je nach Ergebnis zu "kalibrieren" ‒ ein traditioneller Euphemismus für eine Politik des Massenmords, die seit 2017 jedes Jahr zehntausende zivile Todesopfer gefordert hat.
Da sich Washington jedoch darauf konzentriert, Israels völkermörderischen Krieg in Westasien aktiv zu unterstützen und seinen NATO-Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine zu verlängern, könnte die Stabilität des Energiemarktes kurzfristig Vorrang haben. Die Eindämmung der venezolanischen Migration, die in den letzten Jahren vor allem aufgrund des US-Wirtschaftsterrorismus dramatisch zugenommen hat, wird eine weitere Priorität der Regierung von Joe Biden im Vorfeld des Novembers sein. Es scheint also, dass Washington nicht in der optimalen Position ist, um seine Regime-Change-Kampagne zu eskalieren, zumindest nicht vor dem nächsten Jahr.
Der Weg vor uns
Die Regierung Maduro und die chavistische Bewegung im weiteren Sinne sind in der nächsten Zeit weiterhin mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Am 28. Juli stimmte ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft für die wohl am weitesten rechts stehende Präsidentschaftskandidatur in der Geschichte der venezolanischen Demokratie. Obwohl María Corina Machado nicht auf dem Stimmzettel stand, zog sie ganz offen die Fäden des eigentlichen Kandidaten Edmundo González.
Machado muss nicht vorgestellt werden. Seit der Ära von George W. Bush ist sie eine treue Verbündete der USA. Zu ihrem Vorstrafenregister gehören die Unterstützung praktisch aller Putschversuche des letzten Vierteljahrhunderts, die begeisterte Befürwortung von Sanktionen unter Führung der USA und sogar die Forderung nach einer ausländischen Invasion, für die sie lediglich mit einem politischen Ämterverbot belegt wurde.
Machados Programm ist ungebremster Neoliberalismus ‒ einschließlich des Verkaufs strategischer Staatsunternehmen wie PDVSA ‒ gepaart mit dem Versprechen den "Sozialismus auszurotten", was einen schmutzigen Krieg gegen den Chavismus geradezu ankündigt. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Machado – und damit auch ihr Stellvertreter González – die auserwählte Kandidatin der Biden-Regierung war, welche sie konsequent gegenüber anderen Oppositionskandidaten bevorzugte, die eher zu Verhandlungen mit der Maduro-Regierung bereit waren, wie etwa der Gouverneur von Zulia, Manuel Rosales.
Ähnlich wie Argentiniens Milei und Brasiliens Bolsonaro muss Machado als die lokale venezolanische Manifestation des Faschismus an der Peripherie betrachtet werden, der sich im gesamten Süden angesichts der verheerenden sozialen Auswirkungen von Einkommensdeflation, Sanktionen, Interventionskriegen und anderen Modalitäten der "Akkumulation durch Verschwendung" ausgebreitet hat, die von einem immer rasenderen, wenn auch bereits senilen Imperialismus verfolgt werden.
Diese Kräfte, die die rückschrittlichsten neokolonialen Klassen und Siedlerfraktionen repräsentieren, machen keinen Hehl aus ihrer Unterwürfigkeit gegenüber den in Washington und anderen westlichen Hauptstädten herrschenden demokratischen Faschisten und schwenken stolz das blutbefleckte Banner der völkermordenden zionistischen Kolonialmacht in Palästina. Es ist kein Wunder, dass sich die bolivarischen Basisbewegungen gegen diese existenzielle Bedrohung verschanzen.
Gleichzeitig drohen der Regierung Maduro verschärfte Sanktionen oder sogar eine Rückkehr zum "maximalen Druck", sollte Donald Trump im November ins Weiße Haus zurückkehren. Dies bedeutet einen immer schwierigeren Balanceakt, um das Wirtschaftswachstum nach einem der weltweit schlimmsten BIP-Rückgänge in Friedenszeiten zu fördern, ohne Armut und Ungleichheit weiter zu vergrößern. Die derzeitige Liberalisierungsstrategie, die dem Kapital Vorteile verschafft, um dringend benötigte Investitionen anzuziehen, und gleichzeitig von der arbeitenden Mehrheit Geduld und Opfer verlangt, könnte sich angesichts der wachsenden Bedrohungen von innen und außen als zunehmend unhaltbar erweisen.
Darüber hinaus sind die Wahlergebnisse selbst bei Menschen, die mit der Bolivarischen Revolution sympathisieren, mit Fragen behaftet, da der Nationale Wahlrat (CNE) keine detaillierten Auszählungen nach Wahlzentren veröffentlicht hat. In der Vergangenheit haben diese öffentlich zugänglichen Gesamtergebnisse alle Zweifel an dem Prozess zerstreut und den absoluten Mangel an Beweisen hinter den ständigen "Betrugs"-Vorwürfen der Opposition aufgedeckt. Stattdessen hat das Schweigen des CNE es der Opposition und ihren Medienvertretern ermöglicht, auf der Grundlage einer zweifelhaften parallelen Ergebnisseite Siegesmeldungen abzugeben.
Internationale Solidarität
Es ist allerdings klar, dass das liberale Händeringen von außerhalb Venezuelas, vor allem aus dem globalen Norden, vollkommen unaufrichtig ist. Imperialistische Funktionäre und ihre intellektuellen Helfer aller politischen Richtungen sind absolut nicht in einer Position, im Namen der "Demokratie" zu sprechen. Ihre Hände und Stifte sind mit dem Blut nicht nur des palästinensischen Shuja'iyya und Tel al-Sultan, sondern auch des bolivianischen Senkata und Sacaba besudelt, neben zahllosen anderen abscheulichen Verbrechen gegen die Souveränität der Dritten Welt von Haiti und dem Kongo bis Libyen und Syrien, die mit Unterstützung von Teilen der westlichen Linken begangen wurden.
Die häufig übersehene Realität ist, dass Venezuela ein Land ist, das vom US-geführten Imperialismus belagert wird, was jeden Aspekt der inneren Widersprüche der Bolivarischen Revolution prägt. Das gilt am Morgen nach der Wahl genauso wie am Tag zuvor.
Abgesehen von den enormen natürlichen Ressourcen und der strategischen Lage wird Venezuela im Fadenkreuz Washingtons bleiben, weil seine Revolution ‒ ungeachtet der Fehler, Rückschläge und Irrwege im Laufe der Jahre ‒ immer noch ein Leuchtfeuer der Hoffnung darstellt, dass die rassifizierten und verarmten arbeitenden Menschen des Globalen Südens eine souveräne Alternative zur westlichen imperialistischen Ordnung aufbauen können ‒ einer Ordnung, die auf über 500 Jahren kolonialer und neokolonialer Barbarei beruht. Dieses radikale Potenzial zeigte sich bereits im Volksaufstand "Caracazo" von 1989 und fand später seinen reifsten Ausdruck in der bolivarischen Bewegung unter der Führung von Hugo Chávez, der eine maßgebliche Rolle beim Aufbau der entstehenden Süd-Süd-Allianzen und Widerstandsachsen an der Seite Chinas, des Iran und anderer wichtiger antisystemischer Akteure spielte.
Es ist offensichtlich, dass Venezuela heute eine der Hauptfronten im Klassenkampf gegen die Völker des Globalen Südens darstellt. Es gibt keinen Kompromiss. Da die ansteigende Flut des von den USA gesponserten Faschismus die arbeitenden Menschen nicht nur in Venezuela, sondern auf der ganzen Welt bedroht, muss unsere internationalistische Solidarität mit der Bolivarischen Revolution so bedingungslos sein wie immer schon.
Dieser Text erschien zuerst auf Englisch bei Venezulaanalysis. Übersetzung: Olga Espín.
Ricardo Vaz lebt seit Anfang 2019 in Venezuela und arbeitet seit 2018 als Autor und Redakteur beim Informationsportal Venezuelanalysis. Er ist außerdem Mitglied der Basis-Kollektive Tatuy Tv und Utopix.
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