Von Maria Müller
Am Sonntag gingen die Chilenen zum zweiten Mal innerhalb von wenig mehr als einem Jahr zur Wahl, um wieder über einen neuen Verfassungsentwurf zu entscheiden. Bei diesem Referendum mit der Pflicht zur Teilnahme stimmten 55,74 Prozent der Chilenen gegen den neuformulierten Text und 44,2 Prozent dafür. Das ist immerhin ein Abstand von 1,4 Millionen Stimmen bei insgesamt 15 Millionen Wahlberechtigten.
Einen ersten, progressiven Vorschlag hatte im Jahr 2022 allerdings ebenfalls eine Mehrheit abgelehnt, obwohl der damalige Vorschlag stark von Forderungen aus der jungen Protestbewegung beeinflusst war und vom progressiven Lager unterstützt wurde. Der große Wahlsieg des linken Präsidenten Gabriel Boric wenige Monate zuvor schien vergessen. Der daraufhin gebildete neue Verfassungsrat mit mehrheitlich gewählten Anhängern des früheren Diktators Augusto Pinochet (1973 – 1990) erlitt nun aber ebenfalls eine deutliche Niederlage. Das zementiert die seit Jahrzehnten bestehende Ausgangslage. Die stark von der neoliberalen Ideologie des Diktators Pinochet geprägte bisherige Verfassung bleibt erhalten.
Rund 340.000 Menschen beantragten, nicht an der obligatorischen Volksabstimmung teilzunehmen, um kein Bußgeld bezahlen zu müssen. Diese Zahl ist dreimal so hoch wie bei der Abstimmung im September 2022 und zeigt die Ermüdung eines Teils der Bevölkerung gegenüber diesem Wahlvorgang. Bereits im Vorfeld hatte ein Teil der Chilenen in Umfragen ihre Überzeugung verdeutlicht, dass die Probleme des Landes nicht durch eine Verfassungsreform gelöst werden könnten.
Der nun zur Abstimmung vorgelegte Text wurde in den meisten der 16 Regionen des Landes abgelehnt, insbesondere in der Hauptstadt Santiago de Chile, in den Großstädten Valparaíso und Antofagasta, wo es fast 20 Prozentpunkte Differenz zu den Befürwortern gab. Die Wahl verlief ohne größere Probleme. Die Beteiligung erreichte 84,36 Prozent, ein ähnlicher Wert wie bei der vorherigen Volksabstimmung im September 2022.
Kein Sprungbrett für die nächsten Präsidentschaftswahlen
Das rechtskonservative Lager wollte das Referendum vom 17. Dezember als Sprungbrett für die Präsidentschaftswahlen Ende 2025 nutzen. Eine Zustimmung wäre von der Republikanischen Partei als Sieg gefeiert worden. Doch das chilenische Volk lehnt eine Verfassung ab, die noch weiter rechts stehen würde als jene aus der Zeit des Diktators Pinochet.
Noch am Sonntagabend gestand der rechtskonservative Javier Macaya die Niederlage ein. Er sagte:
"Das Ergebnis der Volksabstimmung ist ein Beispiel für die Verfassungsmüdigkeit des Landes, und die Verantwortung, die wir als Partei haben, besteht darin, im Einklang mit den Bürgern zu stehen."
Macaya ist der Präsident der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI), einer Pinochet-orientierten Partei und einer der Hauptverantwortlichen für die Ausarbeitung des an diesem Sonntag gescheiterten Projekts.
Die Regierungssprecherin Camila Vallejo erklärte, dass der Verfassungsprozess die Bürger erschöpft habe und dass es weder Zeit noch Kraft für einen dritten Versuch gebe.
"Wie der Präsident betont hat, ist die chilenische Politik weiterhin dem chilenischen Volk verpflichtet, und die Träume vom Aufbau eines besseren Landes sind immer noch lebendig. Wir haben verstanden, dass die große Mehrheit des chilenischen Volkes dies verlangt."
Die Schwankungen, die die Idee einer Verfassungsreform in Chile seit dem sozialen Ausbruch von 2019 durchlebt hat, sind erstaunlich. Nach Auffassung des Politikwissenschaftlers Andrés Scherman zeigen öffentliche Meinungsstudien, dass sich die Mehrheit der Chilenen weiterhin in einer sehr gemäßigten Position auf der Links-Rechts-Skala einordne.
"Ihre Vertreter schwankten jedoch von einem Extrem ins andere und propagierten stark ideologische Verfassungsvorhaben, die weit von den Erwartungen der Wähler entfernt waren. So kam die Distanz zwischen der politischen Klasse und den Bürgern deutlich zum Ausdruck, sowohl im September 2022 als auch am gestrigen Sonntag", schrieb er auf der Webseite des Zentrums für journalistische Forschung (CIPER: Centro de Investigación Periodística).
Eine Reihe von Themen des jüngsten Verfassungstextes
Die neue Verfassung hätte der sofortigen Ausweisung von illegalen Einwanderern Verfassungsrang verliehen. Das steht im Widerspruch zum Grundsatz der Nichtzurückweisung in den von Chile unterzeichneten internationalen Verträgen. Die Zunahme von Gewaltverbrechen, die man mit der Ankunft von Migranten, aber auch mit einer schwachen Wirtschaft in Verbindung bringt, zieht heute mehr denn je die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich. Vier Jahre nach den Protesten, als viele Chilenen für mehr soziale Gerechtigkeit auf die Straße gingen, fordern sie nun mehr Polizei, mehr Ordnung und Sicherheit.
Ein weiterer Abschnitt der geänderten Verfassung hätte die Existenz der privaten Pensionsfonds (AFP) festgeschrieben, wogegen die Chilenen schon 2019 millionenfach demonstriert hatten. Des Weiteren war ein Verbot des politischen Streikrechts angesagt. Streiks sollten nur noch im Rahmen von Tarifverhandlungen erlaubt sein. Private Schulen, Gymnasien und Universitäten würden je nach Zahl der Schüler und Studenten privilegierte Finanzierungen erhalten, den Eltern wollte man das Vorrecht bei der Wahl der Ausbildung ihrer Kinder entziehen. Der Staat sei nunmehr ein "Unterstützer und nicht ein Garant" des Rechts auf Bildung.
Ein weiterer kritischer Punkt bezieht sich auf die Süßwasser-Reserven des Landes, die seit der Niederlassung von Wasserstoffprojekten die Diskussionen anheizen. Wasser würde nun in eine Ware umgewandelt, was Unternehmen mit intensivem Wasserverbrauch unantastbare Käuferrechte einräumt. Das humanitäre Menschenrecht auf Trinkwasser würde damit ausgehebelt.
Insgesamt sollte sich der Staat gemäß der neoliberalen Ideologie aus wirtschaftlichen Fragen noch mehr heraushalten, die "Dynamik des Marktes" habe verfassungsrechtlichen Vorrang.
Die schwierige Suche nach einer glaubwürdigen Verfassung
Es bleibt die Frage, wie die chilenische Bevölkerung in mehreren aufeinanderfolgenden Wahlen für linke Optionen stimmen und einige Monate später die extremste Rechte wählen konnte. Ein Erklärungsmuster wäre, dass das Unbehagen wegen einer "delegierten Demokratie", die "über die Köpfe hinweg" gestaltet und entscheidet, der rationale Kern des wechselhaften Wahlverhaltens ist. Die komplizierten Themen der heutigen Realität in Chile und ganz Südamerika erfordern sicherlich einen breit organisierten Bürgerdialog, der über die bisherigen Mechanismen politischer "Willensbildung" weit hinausweist. Doch die politischen Parteien und selbst die außerparlamentarische Opposition bewegten sich offenbar im Rahmen der plakativen politischen Werbung und verwechselten eine Verfassung mit einem Grundsatzprogramm. Ohne sich auf gesellschaftlich verankerte Vorstellungen stützen zu können, gerät ein Verfassungstext eher zu einem Aufruf für politische Wünsche und Zielvorstellungen, anstatt zu einer breiten Identifizierung beizutragen.
Allerdings ist ein großer Teil der Verantwortung für den fehlgeschlagenen Aufklärungsprozess jener Polemik der Pressemedien zuzuschreiben, die sie im Vorfeld in einer Kampagne zur landesweiten Desorientierung verbreiteten.
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