Argentinien nach der Wahl: Vor einem Bürgerkrieg – oder einer faschistischen Diktatur

Der Sieg von Javier Milei ist in erster Linie ein Eigentor der argentinischen Linken, die es nie geschafft haben, sich organisiert vom korrupten "Progressivismus" zu lösen und dem Volk als Alternative ein eigenes zukunftsorientiertes Projekt anzubieten. Was Argentinien nunmehr auf dem Weg des "anarchokapitalistischen" Experimentes erwartet, ist gewiss nicht besser.

Von Oleg Jassinski

In den kommenden Monaten werden sich in Argentinien dramatische Ereignisse abspielen. Javier Milei, der gerade zum Präsidenten gewählte "Anarchokapitalist", der wie ein Verrückter aussieht, ist nicht wirklich verrückt. Er ist sich wohl auch der Unerfüllbarkeit seiner jüngsten Versprechen bewusst, er hat Angst, aber er ist bereits Teil in der herrschenden Maschinerie der Mächtigen, die ihm vor einigen Monaten die Rolle des prominentesten Rädchens angeboten haben.

Der Wahlsieg von Milei ist in erster Linie ein Eigentor der argentinischen Linken, die es nie geschafft haben, ein eigenes Projekt zu entwerfen und den Menschen anzubieten und eine eigenständige, wirklich unabhängige Organisation zu bilden. Sie haben nicht einmal damit aufgehört, sich an korrupten populistischen Projekten des "Progressivismus" zu beteiligen, der sich seit Langem auf die "Kunst" spezialisiert hat, Wasser zu predigen und dabei Wein zu trinken.

Der einzige aussichtsreiche Gegenkandidat von Milei bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen war der bisherige Wirtschaftsminister eines Landes, das derzeit einen echten wirtschaftlichen Zusammenbruch mit einer Inflationsrate von 150 Prozent allein im letzten Jahr erlebte. Eine bessere Wahlhilfe für Milei war nicht denkbar.

Argentinien war nie ein Paradies, aber die meiste Zeit des letzten Jahrhunderts war es das wirtschaftlich wohlhabendste Land in Südamerika und wurde von seinen Nachbarn durchaus mit Neid betrachtet. Der Internationale Währungsfonds, die endemische Korruption und die chronische Inkonsequenz der traditionellen politischen Kräfte haben es gemeinsam geschafft, die Wirtschaft des einst blühenden Landes zu zerstören.

Das Volk – das Hauptopfer der Krise – dafür verantwortlich zu machen, ist zumindest unredlich, auch wenn 56 Prozent der Wähler für Milei gestimmt haben. Ein verzweifeltes, gutgläubiges und betrogenes Volk verzeiht nicht.

Offiziellen Statistiken zufolge lebten Mitte dieses Jahres mehr als 40 Prozent der Bevölkerung in Armut und fast 14 Prozent in tiefstem Elend. Bei den Kindern unter 14 Jahren erreichte die Armutsquote in Argentinien 56,2 Prozent.

So entstand eine gärende, vorrevolutionäre Situation im Land. Eine revolutionäre Situation zwar, aber ohne Revolutionäre, ohne Klassenbewusstsein, ohne eine von den korrupten Partei- und Gewerkschaftsstrukturen unabhängige Organisiertheit der Bürger und vor allem ohne ein alternatives zukunftsorientiertes Projekt.

Das herrschende System füllte diese Lücke sofort mit einem Hologramm einer Alternative – mit der Figur Javier Milei. Sein Team hat dann die politisch-technologische Arbeit hochprofessionell erledigt. Es zog die Argentinier an emotionalen Fäden, bediente all ihre Komplexe und Illusionen. Viele Menschen haben ihn nur gewählt, um die derzeitige Regierung zu "bestrafen". Denn die Armen haben keine andere Möglichkeit als diese, die Macht zu bestrafen. Viele sind unter ihr arm geworden. Manche Frauen gehen zu einem ungeliebten Liebhaber, um sich an ihrem Mann für all die Enttäuschungen und Demütigungen zu rächen.

Javier Milei ist nicht nur ein "Freak" oder "Psychopath" oder ein "Lump" oder ein "Faschist", wie viele Leute jetzt emotional behaupten. Er ist vielmehr ein Produkt des Globalisierungsprojekts, anscheinend insbesondere der transhumanistischen Version von Elon Musk. Es ist völlig egal, was er vor der Wahl gesagt, versprochen oder geschrien hat oder gegenüber wem und womit er sich gebrüstet hat. Er ist ein Medienprodukt ohne Ideen und Überzeugungen, das sich so verhält, wie man es ihm sagt. Genau wie die meisten seiner Gegner, die heute so hysterisch reagieren.

Um "das Land zu retten", verspricht der neu gewählte Präsident eine Schocktherapie und die "Anwendung des Gesetzes" im Falle von Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Wenn man genauer hinsieht, ist es in der Realität unmöglich, die meisten seiner Versprechen zu erfüllen. Es ist unmöglich, die Wirtschaft gänzlich dem US-Dollar zu unterwerfen, indem man die Zentralbank schließt. Die Wirtschaft einiger argentinischer Provinzen ist heute in den Händen chinesischer Bergbau-Megaprojekte, was durch die entsprechenden Abkommen und Investitionen besiegelt wird. Die "wirtschaftlichen Beziehungen zu China abzubrechen", um "die Freiheit ausländischer Investitionen zu gewährleisten", ist nicht nur eine Dummheit, sondern sogar eine gar nicht realisierbare Dummheit. 

So wie Chile während der Pinochet-Diktatur zu einem Labor des Neoliberalismus wurde, so wird dem heutigen Argentinien die Rolle des ersten weltweiten Experiments der totalen Zerstörung des Staates zugewiesen, und zwar als Ergänzung und kreative Weiterentwicklung des grausamen Modells, auf das die benachbarte Militärdiktatur vor vier Jahrzehnten festgelegt wurde.

Das wirtschaftliche Experiment der Herrschaften hinter Milei führt alternativ zu einem von zwei möglichen Resultaten: zu einem faschistischen Regime oder einem Bürgerkrieg.

Oleg Jassinski (englische Transliteration: Yasinsky), ist ein aus der Ukraine stammender Journalist, lebt überwiegend in Chile und schreibt für RT Español sowie unabhängige lateinamerikanische Medien wie Pressenza.com, Desinformemonos.org. Er forscht über indigene und soziale Bewegungen in Lateinamerika, produziert politische Dokumentarfilme in Kolumbien, Bolivien, Mexiko und Chile. Außerdem ist er bekannt als Übersetzer von Texten der Autoren Eduardo Galeano, Luis Sepúlveda, José Saramago, Subcomandante Marcos und anderen ins Russische. Man kann ihm auch auf seinem Telegram-Kanal folgen.

Mehr zum Thema - Argentinien: Droht unter Präsident Milei ein marktradikaler Umbau wie im Chile unter Pinochet?