Grund zur Skepsis: Sieg des Mitte-Links-Kandidaten in Guatemala könnte Erwartungen enttäuschen

Bei den Wahlen am vergangenen Sonntag wurde in Guatemala der Sohn eines früheren Hoffnungsträgers zum Präsidenten gewählt. Kann Bernardo Arévalo den hohen Erwartungen in ihn gerecht werden?

Von Oleg Jassinski

Am Sonntag kam es bei den Präsidentschaftswahlen in Guatemala zu einem lange erwarteten und sehnlich erhofften Ereignis: Der Kandidat der alternativen Kräfte, Bernardo Arévalo, ein Vertreter der "sozialdemokratischen und fortschrittlichen" Bewegung Movimiento Semilla, hat die Wahlen gewonnen. Er bezeichnet sich selbst als "Mitte-Links" – eine seltsame Definition, die in der heutigen Welt absolut nichts garantiert und zu nichts verpflichtet.

Das neue guatemaltekische Staatsoberhaupt ist der Sohn des ehemaligen Präsidenten Juan José Arévalo (1945–1951). Die Regierung Arévalo begann damals zum ersten Mal in der Geschichte des armen und völlig von den USA abhängigen Guatemala mit vorsichtigen Reformen zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung.

Die United Fruit Company (die heute unter dem Namen Chiquita Company firmiert) besaß mehr als 50 Prozent des fruchtbaren Landes und nutzte nur 2,6 Prozent davon, während die große Mehrheit der guatemaltekischen Bauern ohne Land in Armut lebte. Die Großgrundbesitzer wiederum hatten per Gesetz das Recht, ungehorsame Bauern körperlich zu bestrafen oder sogar hinzurichten.

Arévalo-Vater hatte eine Politik des "spirituellen Sozialismus" verkündet, die den Menschen "psychologisch befreien" sollte. Daraufhin erklärten ihn die USA zu einem "gefährlichen kommunistischen Agenten", und 1954 wurde die Regierung seines Nachfolgers, Oberst Jacobo Árbenz, durch eine von der CIA organisierte bewaffnete Invasion und einen Militärputsch gestürzt. Der darauffolgende Bürgerkrieg zwischen linker Guerilla und pro-amerikanischer Diktatur forderte zwischen 1960 und 1996 mehr als 200.000 Menschenleben, die meisten von ihnen Zivilisten.

Arévalo-Sohn, der am Sonntag die Wahl gewann, wurde 1958 geboren, als seine Eltern in Uruguay im Exil lebten. Er studierte Psychologie an der Hebräischen Universität Jerusalem, war stellvertretender Außenminister und guatemaltekischer Botschafter in Spanien, bevor er an der Universität von Utrecht in Holland in Philosophie und Sozialanthropologie promovierte. Neben seiner Muttersprache Spanisch spricht er auch Hebräisch, Englisch, Französisch und Portugiesisch.

Im heutigen Guatemala sind fast 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung vollkommene Analphabeten, und die Hälfte der Kinder leidet an chronischer Auszehrung. Während des Wahlkampfs zeigte sich Bernardo Arévalo in außenpolitischen Fragen äußerst zurückhaltend und politisch korrekt. Er sprach mehrfach von seinen Sympathien für die Regierung Biden und seiner "Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine". 

Daher die große Bitte: Man spare sich die Freude über den "Sieg der Linken" in Guatemala und verkläre ihn nicht. Dann wird man auch nicht enttäuscht werden. Sollte die Skepsis durch konkrete Taten des neuen Präsidenten indes widerlegt werden, wird uns jedes noch so unwahrscheinliche positive Wunder selbstverständlich willkommen sein.

Oleg Jassinski (englische Transliteration: Yasinsky), ein aus der Ukraine stammender Journalist, lebt überwiegend in Chile und schreibt für RT Español sowie unabhängige lateinamerikanische Medien wie Pressenza.com, Desinformemonos.org. Er forscht über indigene und soziale Bewegungen in Lateinamerika, produziert politische Dokumentarfilme in Kolumbien, Bolivien, Mexiko und Chile. Außerdem ist er bekannt als Übersetzer der Texte von Eduardo Galeano, Luis Sepúlveda, José Saramago, Subcomandante Marcos und anderen ins Russische. Man kann ihm auch auf seinem Telegram-Kanal folgen.

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