Eine Analyse von Dagmar Henn
Auf den ersten Blick könnte man meinen, was am Wochenende in Brasilien geschehen ist, sei einfach zu erklären. Die Rechten, Anhänger des abgewählten Präsidenten Bolsonaro, hätten versucht zu putschen, und wie überall sonst auf der Welt steckt die CIA dahinter. Letzteres ist nicht ganz ausgeschlossen, aber die Gesamtlage ist dann doch etwas komplizierter.
Lula da Silva, der Kandidat der PT, war bereits von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens. Seine Nachfolgerin Dilma Rousseff wurde 2016 durch eine Kampagne gestürzt, die alle Züge eines von außen gelenkten Putsches hatte, der aber vor allem über massiven Mißbrauch der Justizorgane geschah. Was seitdem zum Modell für ähnliche Ereignisse in Lateinamerika wurde, etwa jüngst in Peru. Auf den Übergangspräsidenten Michael Temer folgte dann nach den Wahlen 2018, an denen teilzunehmen Lula immer noch durch die Justiz gehindert wurde, der Wahlsieg des rechten Kandidaten Jair Bolsonaro. Während dieses Wahlkampfes zeigte sich durch die Demonstrationen für und gegen diesen Kandidaten, die jeweils Hunderttausende mobilisieren konnten, wie tief die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft geht.
Bolsonaro war damals eindeutig der Wunschkandidat der USA, was nicht nur an der Nähe zum damaligen US-Präsidenten Trump lag. Bolsonaro ließ sich während des Wahlkampfes vor einer US-Flagge ablichten, und er ist Anhänger einer der evangelikalen Kirchen, die seit Jahrzehnten massiv in Brasilien missionieren, aber oft ihre Zentralen in den USA haben oder zumindest dem US-Modell der Fast-Food-Religiösität folgen. Eine seiner ersten Aussagen nach Amtsantritt lautete, er hätte gern einen US-Militärstützpunkt in Brasilien.
Und damit sind wir bereits beim ersten Punkt, warum die Zuordnung nicht so einfach ist. Denn in den entscheidenden Fragen, in denen klar war, wie die Begehren der USA aussehen, wurden sie nicht erfüllt. Diese waren nicht nur der von Bolsonaro erwähnte Stützpunkt, sondern außerdem die Möglichkeit, die staatliche Ölfirma Petrobras samt der vor der brasilianischen Küste liegenden Ölfelder zu übernehmen, und nicht zuletzt ein Ende der brasilianischen Rolle in BRICS.
Bolsonaro hatte in seinem Wahlkampf die Militärdiktatur verherrlicht, die in Brasilien von 1964 bis 1985 herrschte, und immer seine Nähe zum brasilianischen Militär betont. Seine Äußerung zu einem US-Stützpunkt erhielt aber aus eben diesen Kreisen eine sehr schnelle und deutliche Antwort: Bereits am nächsten Tag erschien im Estado de São Paulo ein Artikel, in dem ein nicht näher benannter hochrangiger Militär erklärte, Brasilien brauche keinen US-Stützpunkt, es könne seine Probleme selber lösen. Petrobras ist nach wie vor ein Unternehmen in staatlichem Besitz, und auch das Engagement in BRICS wurde weiter fortgesetzt. Daraus muss man den Schluss ziehen, dass das brasilianische Militär keine Lust mehr darauf verspürt, sich den USA unterzuordnen, und selbst ein Jair Bolsonaro an einzelnen Punkten gar nicht anders konnte, als eine Politik im nationalen Interesse fortzuführen.
Das ändert nichts daran, dass Bolsonaro ökonomisch eine tief reaktionäre Politik verfolgte, dass er sämtliche Sozialprogramme, die von der Regierung Lula einst eingeführt wurden, gekappt hat. "Bolsonaro und sein marktradikaler Wirtschaftsminister Paulo Guedes haben die öffentlichen und am Gemeinwohl orientierten Strukturen bis zur Unkenntlichkeit geschleift, den Arbeitsschutz zur Privatsache degradiert, die Renten und Löhne gesenkt und Unternehmen von Abgaben befreit. Um den Handel und die Finanzwirtschaft durch die Krise zu bringen und ihnen weiter hohe Gewinne zu ermöglichen, nahm Bolsonaro in Kauf, dass weite Teile der Bevölkerung verarmten." So beschrieb das Mario Schenk.
Aber es war erstmalig, dass eine solche Politik nicht in fremdem Auftrag erfolgte. Über viele Jahrzehnte hinweg war die Kernfrage lateinamerikanischer Politik, ob jemand die Abhängigkeit von den USA unterstützt oder für nationale Souveränität steht. Und die hohen Zustimmungswerte, die Lula gegen Ende seiner zweiten Präsidentschaft erreichte (87 Prozent), beruhten zu einem guten Teil darauf, dass er im nationalen Interesse handelte. Eine Situation, in der es bei politischen Auseinandersetzungen tatsächlich vor allem um die Interessenskonflikte innerhalb des Landes selbst geht, ist etwas völlig Neues für Brasilien, und trägt mit dazu bei, dass die Ereignisse schwer zu entziffern sind.
Besonders schwierig ist dabei die Tatsache, dass die Unterstützung für Bolsonaro ein direkter Effekt der Erfolge der ersten Amtszeiten Lulas ist. Die Armutsbekämpfungspolitik führte zu einem sozialen Aufstieg relativ breiter Gruppen; 2013 hieß es von Brasilien, die Hälfte der Bevölkerung gehöre nun zur Mittelschicht. Der Bildungsstand, der noch zu Beginn der 1990er erbärmlich war, hatte sich deutlich erhöht, auch wenn Brasilien bis heute im lateinamerikanischen Vergleich am unteren Ende der Skala liegt. Man kann diese Veränderung auch anders übersetzen: Der Anteil der Menschen in der brasilianischen Bevölkerung, deren Hauptsorge das tägliche Brot ist, nahm ab; und der Anteil jener, deren Hauptsorge die Kriminalität ist, nahm zu. Während die ersteren zu Lula tendierten, bildeten die zweiten die Wählermassen für Bolsonaro.
Diese Gemengelage wird durch die historischen "Altlasten"Brasiliens noch weiter verkompliziert. Es gibt ein brasilianisches Sprichwort: "Ein reicher Schwarzer ist weiß, und ein armer Weißer ist schwarz." Auch wenn Black Lives Matter eine künstlich ins Leben gerufene Bewegung war, hat sie zumindest ins Gedächtnis gerufen, wie viel Sprengstoff im Verhältnis zwischen weißer und schwarzer Bevölkerung in den Vereinigten Staaten noch vorhanden ist. Aber dort geht es um eine Minderheit. In Brasilien ist die Mehrheit schwarz. Und auch wenn die Gesellschaft nicht mehr so rassistisch ist, wie sie es noch vor dreißig Jahren war, als eine schwarze Rechtsanwältin in Rio de Janeiro den Dienstbotenaufzug benutzen musste, um ihre Mandanten zu besuchen, so sind doch sämtliche entsprechenden Vorstellungen nach wie vor präsent, tauchen aber nun im Verhältnis dieser neuen Mittelschicht zu den Armen wieder auf. Von den 135 schwarzen Abgeordneten im neuen brasilianischen Parlament sind 77 Vertreter von Parteien, die Bolsonaro unterstützen.
Diejenigen, denen es gelungen war, aufzusteigen, haben, das zeigt sich unter anderem an diesem Wahlverhalten, nicht die Einstellung dieser Mittelschicht gegenüber den Armen verbessert. Vielmehr haben sie selbst die vorhandene Einstellung übernommen, um sich nach unten abzugrenzen. Auf die Phase des breiten Aufstiegs folgte von 2015 bis 2016 die tiefste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, was vor allem den Binnenkonflikt zwischen den Armen und den etwas weniger Armen verschärfte und damit die Massenbasis für den Aufstieg Bolsonaros schuf.
Dabei dürfte selbst der Mehrheit seiner Wähler klar sein, dass eine Kriminalitätsbekämpfung mittels höherer Polizeigewalt, regelmäßiger paramilitärischer Erstürmungen von Armenvierteln und eine Förderung von Milizen, das Problem nicht wirklich löst, weil auf der obersten Ebene Kriminalität und Polizei verwoben sind und die Hauptprofiteure der gesamten Struktur dieselben Familien von Oligarchen sind, die auch alles Übrige kontrollieren. Es ist eher so, dass eine rigide und eindeutige Hierarchie in der Schattenwirtschaft zumindest die Kollateralschäden verringert. Was in Ermangelung eines besseren Konzepts als einziger Ausweg gesehen wird.
Keine der Regierungen Lula, auch die jetzige, hatte die erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten für tiefgreifende Veränderungen. Die Koalitionspartner waren gezwungenermaßen immer die alten korrupten Parteien, die durch entsprechende Beute für ihre Kompromissbereitschaft entgolten werden mussten. Die Polícia Militar, die bewaffnete Polizei auf der Straße, ist zwar mehrheitlich schwarz, aber alles andere als frei von Rassismus. Und die Kriminalpolizei ist jener Bereich, wo die größten Geschäfte getätigt werden. Das geht vielleicht heute nicht mehr so weit wie noch vor dreißig Jahren, als der Chef der Kriminalpolizei des Bundesstaats Bahia verhaftet wurde, weil er aus Polizisten eine Bande gebildet hatte, die mit Polizeifahrzeugen und Polizeiwaffen Banken im Landesinneren ausraubten. Aber es gibt kein Beispiel, wie solche Strukturen ohne eine größere politische Umwälzung mit aktiver Beteiligung großer Teile der Bevölkerung unter Kontrolle gebracht werden konnten.
Zwei Faktoren können in diesem Bereich günstig wirken: die Alterung der Bevölkerung, die inzwischen den Anteil der Menschen unter 25 auf ein Fünftel gedrückt hat; und ein allgemeiner wirtschaftlicher Aufschwung, der aber momentan noch nicht in Sicht ist. Die Krise 2015/2016 und die neoliberale Politik Bolsonaros haben das Durchschnittseinkommen vom Maximum des Jahres 2013, als es bei 1.559 US-Dollar lag, auf gerade noch 526 Dollar gesenkt. Wobei große Teile der Bevölkerung mit einem Einkommen in Höhe des Mindestlohns zurechtkommen müssen, der gerade einmal bei 190 US-Dollar liegt. Es bräuchte einen massiven Anschub durch öffentliche Investitionen, um ein Wachstum zu schaffen, das sozial stabilisierend wirken kann. Aber selbst der Wirtschaftsminister der neuen Regierung Lula ist ein Wirtschaftsliberaler, die Regierung hat im Abgeordnetenhaus nur eine knappe Mehrheit und im Senat die Mehrheit gegen sich.
Bolsonaro konnte auch mit all jenen Positionen punkten, die Lula bei den US-Demokraten so beliebt machen. Da wird die Bewertung widersprüchlicher. Lula steht vollständig hinter der Klimaschutzpolitik; das bringt ihn selbstverständlich in Widerspruch zum großen Agrobusiness, das den Zugriff auf die Flächen des Amazonas will. Aber es erschwert eben auch eine Politik der industriellen Entwicklung, die für die soziale Stabilisierung erforderlich wäre. Es ist eine Sache, die Diskriminierung Schwuler zu beseitigen, wie die erste Regierung Lula das getan hat. Es ist aber eine ganz andere, das in Richtung der woken Ideologie weiterzudrehen – in einem Land mit einem schwachen Sozialstaat wie Brasilien ist es schlicht politischer Selbstmord, den Wert der Familie herabzusetzen, da es die Familien sind, die das Überleben sichern.
Die Betonung der identitätspolitischen Felder war der Versuch, alternative Erfolge zu generieren, wo auf dem entscheidenden Feld der gesellschaftlichen Ungleichheit nur begrenzte Siege zu erzielen waren. Da reagierte die brasilianische Linke nicht anders als die europäische auch. Aber damit entfernt sie sich noch wesentlich weiter von den Interessen derer, für die sie eigentlich einstehen will, für die aber ganz normale, stabile heterosexuelle Familienverhältnisse etwas sind, das sie anstreben und wünschen. Gerade weil sie unter den Bedingungen extremer Armut nicht zu haben sind.
Die brasilianische Rolle in BRICS dürfte kaum in Gefahr geraten, schon allein, weil China längst der bedeutendste Handelspartner Brasiliens ist. Auch und gerade für jene Teile der Landwirtschaftsindustrie, die Bolsonaro massiv stützten. Aber während der ersten Regierung Lula beruhte das, was im Interesse der armen Bevölkerungsteile erreicht werden konnte, auf einem Bündnis, das auch jene Gruppen umfasste, die man traditionell die nationale Bourgeoisie nennt, weil der Hauptkonflikt sich um die Frage wirklicher Unabhängigkeit drehte. Die jetzige Regierung Lula wird es an diesem Punkt bedeutend schwerer haben, weil dieser Hauptkonflikt in dieser Form nicht mehr besteht. Die Ereignisse während der Regierung Bolsonaro belegten, dass selbst ein Militärputsch keine unmittelbare Unterordnung unter die US-Interessen mehr erreichen würde.
Die Erstürmung der Regierungsgebäude in Brasília wird quer durch die gesamte Medienlandschaft, selbst von Medien wie TV Globo, als Terrorismus verurteilt. Das ist insofern interessant, als TV Globo mit zu jener Gruppe reaktionärer Medien zählt, die Bolsonaro stützten.
Der bekannte geopolitische Journalist Pepe Escobar, selbst Brasilianer, schreibt: "Ein ehemaliger US-Geheimdienstler hat bestätigt, dass der chaotische Maidan-Remix, der am 8. Januar in Brasília inszeniert wurde, eine CIA-Operation war, verknüpft mit den jüngsten Versuchen einer Farbrevolution im Iran." Im Cyber Command der US-Armee in Fort Gordon sei es kein Geheimnis, dass die CIA hunderte von Agenten während der jüngsten Präsidentschaftswahlen in Brasilien eingesetzt habe. "Seit Mitte 2022 wurde die CIA-Kommunikation in Fort Gordon abgefangen. Das Hauptthema damals war die Etablierung des weit verbreiteten Narrativs 'Lula kann nur durch Betrug gewinnen.'"
Die Strategie, die die USA einschlagen dürften, wird vermutlich darauf zielen, das größtmögliche Chaos zu erzeugen, das Brasilien, wenn es schon nicht unterworfen werden kann, wenigstens als möglichen Konkurrenten paralysiert. Das Durcheinander, das dank der woken Ideologie ohnehin bereits vorhanden ist, ließe sich nur durch eine Neuformierung von Klassenpolitik beseitigen, die die Veränderungen in der sozialen Landschaft Brasiliens mit in Betracht zieht.
Der geringe Spielraum, den die Regierung Lula hat, ergibt sich vor allem aus der Außenpolitik; die stürmische Entwicklung, die BRICS derzeit nimmt, könnte auch Ansatzpunkte für einen ökonomischen Aufschwung liefern. Mit viel politischem Geschick wäre es vielleicht möglich, aus der verkündeten Regierung der nationalen Einheit eine tatsächliche zu schmieden. Wenn klar wird, wozu die Chaotisierung, die am 8.Januar zum Vorschein kam, dienen soll. Das würde unter anderem erfordern, die faktische Entscheidung für die nationalen Interessen, die das brasilianische Militär 2018 getroffen hat, anzuerkennen, die vielfachen Frontstellungen innerhalb der brasilianischen Gesellschaft wieder auf die realen ökonomischen Interessenskonflikte zurückzuführen und die ideologischen Scheingefechte zu beenden. Wenn einer in Brasilien dieses Geschick besitzt, dann Lula da Silva. Gelingt es ihm nicht, drohen Brasilien Jahre der Stagnation.
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