von Maria Müller
Der seit vielen Jahrzehnten in Kolumbien alles beherrschende Machtblock aus Militärs, Großkonzernen, Oligarchen und Drogenmafias verlor mit der Partei Centro Democrático unter Iván Duque bei diesen Wahlen zum ersten Mal erdrutschartig an Terrain. Erlebt Kolumbien einen Epochenwechsel?
Eine "Nationale Übereinkunft" als Regierungsstrategie
Die Vizepräsidentin Francia Márquez charakterisierte das Bündnis als einen
"historischen Pakt zwischen jenen Bürgern, die sich mit den fortschrittlichen, sozialdemokratischen und wirklich liberalen alternativen Sektoren der Gesellschaft identifizieren. Ein Pakt, der die Macht an die Menschen zurückgibt, der uns zu einer wahren politischen Transformation führt, der uns eine Ära des Friedens schenkt, die wir nie erlebt haben …"
Die neue Regierungsstrategie drückt sich darin aus, dass man mittels einer breit angelegten, parteiübergreifenden Zusammenarbeit der politischen Kräfte die Umwandlung Kolumbiens in einen modernen demokratischen Staat erreichen will. Petro und Márquez sprechen von einer "Nationalen Übereinkunft", in der die gesellschaftliche Versöhnung und der Blick in die Zukunft den Schmerz über die grausamen Jahrzehnte der Vergangenheit überwinden sollen. Nur so könnten die titanischen Aufgaben bewältigt werden, mit denen diese Regierung konfrontiert ist.
Der Wiederaufbau des Landes nach einem langen Krieg
Es geht um nichts weniger, als die ausgehöhlte Staatlichkeit zu sanieren und die Souveränität über das gesamte Territorium wieder herzustellen. Was bedeuten diese Worte?
Kolumbien ist das Land mit den größten sozialen Unterschieden und einer der höchsten Gewaltquoten der Welt, ein Land, wo paramilitärische Banden und Drogenorganisationen ganze Regionen kontrollieren. Sie können tagelange Ausgangssperren verhängen und die Einwohner unter den Augen der Polizei terrorisieren.
In Kolumbien befinden sich 80 Prozent der Anbauflächen in der Hand von nur einem Prozent der Bevölkerung. Paramilitärs vertrieben dafür acht Millionen Bauern von ihrem Besitz, die heute als Binnenflüchtlinge die Elendsviertel bevölkern.
Ein Land, in dem die offiziellen Streitkräfte 6.400 Zivilpersonen getäuscht, entführt und ermordet haben, um sie als Erfolgsziffern im Kampf gegen die FARC-Guerilla nach Washington melden zu können ("falsos positivos").
Über sechs Millionen Migranten verließen dieses Land, um außerhalb ihrer Heimat wirtschaftlich zu überleben. Sie werden allerdings nicht als "Flüchtlinge" bezeichnet, wie im Fall Venezuelas.
Die Aufzählung der dramatischen Probleme Kolumbiens übersteigt das Fassungsvermögen eines Artikels.
Die neue Regierung setzt auf eine strukturelle Umgestaltung.
"Mindestens drei aufeinanderfolgende Regierungsperioden des politischen Bündnisses 'Coalición Pacto Histórico' sind notwendig, um diesen Prozess der Umstrukturierung erfolgreich durchführen zu können", so Márquez.
Die Regierung setzt auf eine Agrarreform, eine Arbeitsrecht- und Rentenreform, Bildungsreform, Reform des Gesundheitswesens, Justizreform und die Reform der Umweltgesetzgebung für die Klimaziele. Sie will das Fracking verbieten und einen Rückzug von der fossilen Energie einleiten, den Rohstoffexport reduzieren und die verarbeitende Industrie fördern, außerdem eine soziale Einkommensverteilung und Grundleistungen für die ärmsten Familien schaffen. Sie will höhere Unternehmenssteuern besonders für unproduktives Kapital einführen und den Tourismus fördern. ("Manifest für Kolumbien 55/86")
Das Reformpaket beinhaltet keine radikalen Forderungen
Die Themen bewegen sich lediglich im Rahmen einer sozialdemokratischen Staatsraison. Insofern müssten sie durchaus machbar sein, wobei sich allerdings eine gerechte Landreform und die Rückgabe von illegalem, geraubtem Land durch Großgrundbesitzer, Agrarfirmen und Bergbaukonzerne weit schwieriger gestalten dürften. In der Vergangenheit riskierten die früheren Besitzer ihr Leben.
Für die Reformen sind entsprechende Mehrheiten im Zweikammern-Kongress Kolumbiens notwendig, die das linke Bündnis nicht erreichen konnte. Doch nun wollen sich weit mehr Parteien der Regierungsallianz anschließen. Dieses Spektrum reicht von den Grünen bis in die liberale Mitte. Nur zwei rechte Organisationen werden die Opposition stellen, darunter die bisherige Regierungspartei des Iván Duque.
Knappe Stimmenzahlen im Kongress
Wie das Lateinamerika-Portal Amerika21.de berichtet, kann das parlamentarische Bündnis "Coalición Pacto Histórico" damit knapp die benötigten Kongressstimmen erreichen, um die jeweiligen Gesetzesneuerungen durchzusetzen.
Die neue Regierung wird verhandeln müssen. Das könnte den Angriffen der bisherigen Machtkartelle eine Bresche öffnen. Sie werden wie bisher keine Skrupel zeigen, um ihre Privilegien erneut zu erzwingen. Deshalb zählt jede Stimme.
Die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens
Eines der zentralen Ziele von Petro und Márquez ist die "vollständige Umsetzung der in Havanna zwischen der Regierung und den FARC ausgehandelten Friedensabkommen".
Das Abkommen erfordert in manchen Teilen eine strukturelle Umgestaltung von Institutionen und der Produktion, ähnlich wie im neuen Regierungsprogramm. Hier könnte der juristische Charakter des Gesellschaftsvertrags die parlamentarischen Hürden leichter überwinden, doch in anderen Reformbereichen werden sich sicher erneut Kämpfe entwickeln.
Anstelle von Frieden verstärkte Gewalt
Eines vorweg: Der Staat hat die Friedensvereinbarungen von 2016 nur teilweise erfüllt, über 200 FARC-Mitglieder wurden anschließend ermordet. Die Entschädigungsgelder für Gewaltopfer verschwanden großteils unauffindbar, die alternative Landwirtschaft für Koka-Bauern endete durch "großzügige" Anwendung von Glyphosat und Geldmangel. Menschenrechts- und Friedensaktivisten sowie im Umweltschutz und in sozialen Bereichen engagierte Personen werden immer noch zu Hunderten umgebracht, die Zahl der "Verschwundenen" oder gewaltsam Entführten wächst weiterhin fast täglich (bis Ende 2021 betraf das 167.325 Personen).
Der Kokainexport wuchs seit dem Friedensabkommen erneut. Kolumbien exportiert 90 Prozent des weltweiten Kokains, jedes Jahr verlassen 1.500 Tonnen das Land. Die Streitkräfte überließen den Paramilitärs und Drogenorganisationen nach dem Rückzug der FARC-Guerillas die Randzonen Kolumbiens und damit die Transportwege für den Kokainschmuggel in die USA und in die ganze Welt.
Die Frage nach der Rückkehr von zehntausenden bewaffneten Bandenmitgliedern in ein normales gesellschaftliches Leben scheint vorerst schier unlösbar. Es dürfte fast utopisch sein, sie vom Drogenhandel abzubringen – erst recht, solange die USA weiterhin der größte Drogenumschlagplatz sind. Man verzeichnet dort 100.000 Drogentote pro Jahr.
NATO-Partnerschaft gegen eine souveräne Friedenspolitik
Doch das schwierigste Thema ist die seit 2018 bestehende "strategische NATO-Partnerschaft" Kolumbiens. Sie stellt eine fast unüberwindliche Hürde für eine souveräne Friedenspolitik nach innen und außen dar. Die USA und die NATO werden nicht freiwillig auf eine von ihnen besetzte militärstrategische Position in Lateinamerika verzichten. Immerhin spendierten die Vereinigten Staaten 13 Milliarden Militär- und Wirtschaftshilfe dafür. Die langfristige militärische Rohstoffsicherung im Süden des Kontinents gehört zu den Fundamenten ihrer Geopolitik.
Die argentinische Zeitschrift Zoom sieht die militärpolitischen US-Interessen in Südamerika demgemäß so:
"Auf kolumbianischem Territorium gibt es die größte Anzahl von Militärbasen, die die USA auf dem Kontinent haben. Jede Basis verfügt über Luft- und Satellitensysteme mit der Fähigkeit, jedes Land in der Region zu überwachen und auch anzugreifen. Das Interesse ist vor allem strategisch-langfristig.
Die Standorte der Stützpunkte stimmen mit geopolitischen Schlüsselregionen überein, sowohl aufgrund ihrer Position beim Gütertransit auf globaler Ebene – wie im Fall der Karibik – als auch aufgrund ihrer Nähe zu wichtigen Reservoirs von Bodenschätzen; Die Geopolitik braucht eine Militarisierung, um die Enteignung der gemeinsamen Güter Kolumbiens und des Kontinents zu garantieren."
Die Umsetzung des Friedensvertrages ist an die US-Interessen gebunden
Am 24. Mai, wenige Tage vor den kolumbianischen Wahlen, erklärte US-Präsident Joe Biden das Land zum "Hauptverbündeten" der USA außerhalb der NATO. Die Entwaffnung der größten Guerilla-Organisation Kolumbiens FARC durch den Friedensvertrag war die Voraussetzung für die Partnerschaft mit der NATO und den USA. Die antiimperialistische Guerilla wäre im Kriegsfall ein bedeutender Gegner im Rücken der kolumbianischen Streitkräfte an der Front gegen Venezuela. Letzteres Vorhaben ist immer noch ein Kernstück der geopolitischen Ideen Washingtons in Südamerika.
Langfristige Kriegsvorbereitungen
Es passte zu den Planungen eines Szenarios gegen Venezuela, abgelegene Gebiete Kolumbiens rechtsradikalen Terrororganisationen zum langfristigen Selbsterhalt zu überlassen. In einem Krieg Kolumbiens mit Venezuela sollten diese Paramilitärs die Rolle eines besonders grausamen Stoßtrupps spielen, politisch vergleichbar mit der des "Islamischen Staates" im Nahen Osten, oder mit der Rolle der Nazi-Bataillone in der Ukraine.
Die Geiselnahme der Zivilbevölkerung als militärisches Prinzip ist ihnen allen gleichermaßen geläufig. Die kolumbianischen Paramilitärs attackierten bei Wahlen die arme Landbevölkerung, um sie einzuschüchtern und vom Urnengang abzuhalten. Sie korrumpierten bekanntermaßen auch politische Entscheidungsträger.
Horrende Rüstungsausgaben
Kolumbiens Militärausgaben sind seit dem "Friedensvertrag" und der NATO-Assoziierung 2018 die höchsten in ganz Lateinamerika (elf Milliarden US-Dollar oder 3,1 Prozent des BIP). Die militärische Aufrüstung zielt auf einen konventionellen Krieg ab, obwohl es bisher keinen Krieg zwischen den Nachbarstaaten gab.
Die Kriegswaffen umfassen 22 Jagdflugzeuge Typhoon mit Raketen für den Luftkampf aus Schweden, Boden-Luft-Raketensysteme mit bis zu 300 Kilometer Reichweite aus Brasilien, Cruise-Missiles, Drohnen aus Israel und Panzer aus Kanada, Hubschrauber aus Russland, Boeing-Großraumflugzeuge für den Truppentransport aus den USA sowie Raketenwerfer, Radargeräte, Kommunikationssysteme und vieles mehr.
Vorsichtige Taktik gegenüber den USA
Petro erwähnte im Wahlkampf das Problem des NATO-Partnerstatus seines Landes kaum. Die neue Regierung nähert sich dem Umgang mit den USA mit großer Vorsicht. Gleichzeitig macht sie durch ihren Wunsch nach guten Beziehungen mit Venezuela deutlich, dass es keinen Platz für militärische Interventionen gibt.
"Wir müssen Beziehungen zu allen amerikanischen Ländern, einschließlich der USA, unterhalten. Wir müssen diplomatische Beziehungen des gegenseitigen Respekts unterhalten. Sich in eine Konfrontation zu versetzen ist nicht möglich. Es ist notwendig, mit den USA voranzukommen, um angesichts der Umweltkrise eine Beziehung aufzubauen", sagte Márquez dazu.
Die neue Außenpolitik Kolumbiens in Bezug auf Venezuela
Petro will die Beziehungen zu Venezuela normalisieren:
"Wenn wir am 7. August die Regierung Kolumbiens übernehmen, werden die diplomatischen und konsularischen Beziehungen zum Nachbarland Venezuela wieder aufgenommen, unabhängig davon, wer dort regiert: die Freunde von Guaidó, Maduro oder ganz andere Personen."
Petro will eine friedliche Grenzpolitik herbeiführen, und mögliche Konflikte mit Dialog und auf gütliche Weise lösen. Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Nachbarlandes hätte dazu beigetragen, die Sicherheitsprobleme an der Grenze zu vertiefen. Er will für die sechs Millionen ausgewanderte Mitbürger Rückkehrmöglichkeiten schaffen. Beide Staaten haben gegenseitig Millionen Bürger zu verschiedenen Zeiten aufgenommen.
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