von Maria Müller
Im Vorfeld des OAS-Gipfeltreffens der amerikanischen Nationen am 6. Juni zeigten die Regierungen Lateinamerikas überwiegend ablehnende Reaktionen auf die Isolierungsversuche Washingtons gegenüber Nicaragua, Kuba und Venezuela.
Aus Protest gegen den Ausschluss dieser Länder durch den diesjährigen Gastgeber, die USA, kam es im Mai zum Boykott von 14 Karibikstaaten, darunter auch die drei ausgeschlossenen Nationen.
Auch vonseiten der karibischen Staaten gab es harsche Kritik am Vorgehen des US-Präsidenten:
"Das OAS-Gipfeltreffen untersteht nicht den USA. Deshalb können Sie nicht entscheiden, wer eingeladen wird und wer nicht",
erklärte bereits Anfang Mai Robert Sanders, der Botschafter von Antigua und Barbuda in den USA.
Die Präsidenten Mexikos, Boliviens, El Salvadors, Honduras und Guatemalas beschlossen inzwischen endgültig, dem Treffen fernzubleiben. Vor allem Mexikos Präsident Andrés López Obrador profilierte sich gegen das Format der OAS als solches und forderte eine neue Institution. Er befürwortet eine gemeinsame kontinentale Interessenspolitik jenseits ideologischer Spaltungen durch die Vereinigten Staaten.
Weitere sieben Nationen, darunter Chile, Brasilien und Argentinien, wollten abwarten, ob US-Präsident Biden seine Haltung nicht doch noch in letzter Minute ändert. Sie haben inzwischen ihre Teilnahme zugesagt.
Strategische Interessen und taktische Schritte
Noch vor knapp einem Monat waren die USA und Kanada in einer Minderheitenposition. Nur einige wenige konservative Regierungen wie die von Kolumbien, Ecuador oder Panama hatten sie begleitet. Inzwischen berücksichtigen beide Seiten strategische Erwägungen. Hier stehen Interessen auf dem Spiel, die über das Treffen hinaus weisen und eine komplexe Taktik erfordern.
Joe Biden: Zugeständnisse gegen ein politisches Debakel
Auch der US-Präsident kann sich jedoch eine allzu deutliche politische Niederlage nicht erlauben. Mit dem Treffen wollte er den Einfluss Chinas in der Region zurückdrängen und damit bei den diesjährigen Zwischenwahlen punkten. Der frühere US-Senator Christoffer Dodd sprach als Unterhändler der Biden-Regierung persönlich in Mexiko und Buenos Aires vor, um López Obrador und Alberto Fernández doch noch zur Teilnahme zu bewegen.
Gegenüber Kuba signalisiert das Weiße Haus im Hinblick auf seine Sanktionen die Bereitschaft zu Zugeständnissen. Vor zwei Tagen war auch eine Einladung an den kubanischen Präsidenten Díaz-Canel im Gespräch, der jedoch bereits dankend absagte.
López Obrador vollzog zwischenzeitlich einen politischen Schachzug, für den er die Unterstützung eines Teils der US-kritischen Staaten gewann. Denn Lateinamerika will einerseits zwar verdeutlichen, dass es die Hegemonialpolitik der USA nicht länger hinnimmt, andererseits jedoch Joe Biden als das kleinere Übel politisch nicht zu stark attackieren. Denn eine Rückkehr Donald Trumps würde die Region weitaus stärker gefährden. Trump hielt die US-Rohstoffsicherung mit militärischen Mitteln in Lateinamerika für realistischer als durch einen Krieg gegen Russland.
Angesichts dieses Zwiespalts drängten die Präsidenten Mexikos und Venezuelas den argentinischen Präsidenten Alberto Fernández dazu, am OAS-Gipfel teilzunehmen und dort eine spezielle Rolle zu übernehmen. Beide Regierungschefs haben ihm dafür bereits ihr politisches Vertrauen ausgesprochen.
Argentiniens Präsident Alberto Fernández soll vermitteln
Seine kürzliche Wahl zum Vorsitzenden und Sprecher der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) gibt ihm dafür zusätzlichen politischen Rückhalt in der Region. Fernández soll als Sprachrohr der Kritik und der Erneuerung die Interessen Lateinamerikas entschieden vertreten, jedoch zugleich den Dialog mit den USA aufrechterhalten. Gestützt auf die veränderten Kräfteverhältnisse auf dem amerikanischen Kontinent, soll der Argentinier die Vereinigten Staaten zu relevanten Veränderungen bewegen. Die Frage ist, ob Fernández diesen politischen Spagat leisten kann. Denn er muss auch eine Reihe schwerwiegender Probleme seines eigenen Landes in die Verhandlungsmasse einbringen.
Argentiniens Abhängigkeit vom IWF und Bidens Hilfe
Argentiniens Auseinandersetzungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über die von der vorherigen Regierung Mauricio Macris geerbten, praktisch unbezahlbaren 44-Milliarden-Darlehen führten bislang zu keinem erfolgreichen Umschuldungsplan. Ende Januar zeichnete sich allerdings ab, dass die IWF-Hausmacht USA auf Ersuchen Argentiniens erfolgreich eine annehmbare Vertragslösung ermöglicht.
"Ohne ein Abkommen hatten wir keinen Horizont für die Zukunft, mit diesem Abkommen können wir die Gegenwart ordnen und eine Zukunft aufbauen", so Fernández am 28. Januar.
Das hat seinen Preis. Biden erwartet von Argentinien dafür politische Einflussnahme und regionale Zugeständnisse an die USA, besonders im Rahmen des Amerika-Gipfels.
Argentinien sucht Russland und China als Gegengewicht
Wenige Tage später, am vierten und fünften Februar, brach Präsident Fernández zu einer Reise nach Moskau und Peking auf – offenbar mit dem Ziel, trotz der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den USA und dem IWF außenpolitische Neutralität zu demonstrieren.
Insofern zieht der argentinische Präsident vielseitige Erwartungshaltungen auf seine Vermittlerrolle beim OAS-Gipfeltreffen auf sich. Er versucht dabei, aus einer Position der Schwäche eine Stärke zu entwickeln. Die Zeitenwende wirkt sich auch auf das Ereignis in Los Angeles aus.
Steht OAS-Generalsekretär Luis Almagro inzwischen auf dem Abstellgleis?
Washington signalisierte in den vergangenen Tagen die Bereitschaft zu Kompromisslösungen, um ein politisches Debakel zu vermeiden. Dazu gehört auch die (noch nicht offizielle) Notiz, man sei möglicherweise bereit, einen der größten Stolpersteine der OAS-Außenpolitik zu "opfern". Gemeint ist der Generalsekretär Luis Almagro, der seit Jahren mit allen erdenklichen gewaltsamen Mitteln die Destabilisierung der venezolanischen und kolumbianischen Gesellschaft vorantrieb und sogar einen möglichen Krieg zwischen beiden Nationen vorbereitete. Auch mit seiner Unterstützung des Putsches gegen Evo Morales in Bolivien hat Almagro die ursprüngliche Bedeutung der OAS nachhaltig zerstört.
Ein grundlegender Richtungswechsel wäre dringend geboten
Die politische Vorstellungskraft der USA reichte bisher nicht dazu aus, auf der Grundlage friedlicher und gleichberechtigter Handelsbeziehungen von den enormen Ressourcen der Nationen in Mittel- und Südamerika zu profitieren. Traditionell bestand das strategische Credo des Nordens in der wirtschaftlichen und politischen Annexion des Südens mithilfe diverser Gewaltszenarien. Die "Kriegsführung mit niedriger Intensität" (low-intensity warfare) forderte Millionen Opfer: Hunger, Elend, Enteignungen, Massaker, Flüchtlinge, Vermisste, Massenmigration …
Das könnte sich jetzt ändern. Die Ölreserven der USA sind heute trotz der illegalen Ausbeutung der Ölfelder Iraks, Syriens und Libyens auf dem niedrigsten Stand seit 1987, ihre strategischen Grundstoffe gehen zu Ende, das umweltzerstörende Fracking-Gas erweist sich als keine Alternative. Die Sachzwänge könnten die USA daher dazu bewegen, ihre bisherigen außenpolitischen Aktionslinien gegenüber Lateinamerika entscheidend zu revidieren. Denn sie können sich keinen Zwei-Fronten-Krieg um Bodenschätze leisten. Von daher wird auch ein Almagro überflüssig.
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