Eine Analyse von Maria Müller
Der Sanktionskrieg gegen Russland trifft auch lateinamerikanische Länder sehr hart. Sie hatten sich noch nicht von den schweren Auswirkungen der COVID-19-Pandemie erholt, da begann schon der Konflikt in der Ukraine und mit ihm der härteste Sanktionskrieg, den es jemals auf der Erde gab. Die meisten lateinamerikanischen Staaten haben bis zu diesem Zeitpunkt einen bedeutenden wirtschaftlichen und auch wissenschaftlichen Austausch mit Russland unterhalten.
Der Druck aus den USA zwingt sie immer mehr, die bisher vertretene historische Haltung einer Neutralität bei internationalen Konflikten aufzugeben. Differenzierte Sichtweisen hinsichtlich des Krieges in der Ukraine sind unerwünscht und sollen aus den Äußerungen der Regierungen verschwinden. Der Versuch einiger Staaten, eine neutrale Position in diesem Konflikt einzunehmen, wird von den USA als "fehlender Beitrag zum Frieden" gewertet.
"Regionale Führer, die sich nicht über die russische Aggression in der Ukraine äußern, tragen nicht zum Frieden bei", sagte Jon Piechowski, leitender Berater des US-Außenministeriums für hemisphärische Angelegenheiten. Sein Kollege Brian Nichols erklärte, die Vereinigten Staaten erwarteten von den lateinamerikanischen Nationen, dass sie die Sanktionen gegen russische Finanzinstitute und staatsnahe Unternehmen respektieren.
Aus Europa kritisierte der Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, das Land El Salvador für sein "Schweigen" und "mangelndes Verurteilen" angesichts des russischen Einmarschs in die Ukraine.
Kritik an der NATO-Osterweiterung und an einseitigen Sanktionen gegen Russland
Während Kuba, Nicaragua, Venezuela und Mexiko die Osterweiterung der NATO und die dadurch hervorgerufene militärische Bedrohung Russlands kritisieren, zogen Brasilien, Argentinien und El Salvador es vor, sich einer eindeutigen Positionierung zu verweigern.
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro und Argentiniens Staatschef Alberto Fernández hatten noch im Februar einen Staatsbesuch in Moskau absolviert und zeigten damit ihr Interesse an einer von den USA unabhängigen Außenpolitik. Nicht zuletzt zeigt auch die langjährige Verbindung von Brasilien, Indien, China und Südafrika zu Russland (BRICS-Staaten) in der gegenwärtigen Krisensituation Wirkung. Das Bündnis entwickelte seit gut zehn Jahren stabile Wirtschaftsbeziehungen trotz der politischen Unterschiede zwischen den wechselnden Regierungen.
Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador gab bereits Ende Februar bekannt, dass sein Land keine Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängen wird:
"Wir können nicht in eine Führungsrolle fallen, die nichts mit der Zurückhaltung zu tun hat, die in der Außenpolitik herrschen sollte. [...] Wir wollen gute Beziehungen zu allen Regierungen der Welt unterhalten und in der Lage sein, mit den Konfliktparteien zu sprechen."
In Mexiko sind schätzungsweise rund hundert russische Unternehmen tätig, darunter die Firma Lukoil, die mit dem staatlichen Unternehmen Petróleos Mexicanos (Pemex) einen Vertrag über die Erkundung und Förderung von Rohöl abgeschlossen hat. Gazprom arbeitet an der mexikanischen Gasförderung. Die russische Fluggesellschaft Aeroflot ist für die mexikanische Verbindung mit Osteuropa von Bedeutung.
Der russische Botschafter in Washington, Anatoli Antonow, schrieb auf Telegram, dass die USA nicht an den Schaden denken, den solche Sanktionen für die Entwicklung der lateinamerikanischen Nationen, ihre Ernährungssicherheit und ihre soziale Stabilität bewirken können. Insgesamt verschärft der Wirtschaftskrieg gegen Russland die Lage in ganz Lateinamerika. In der Folge kommt es zu noch mehr Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen.
Anfang April nannte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro die einseitigen Sanktionen gegen Russland einen "Wahnsinn" und ein Verbrechen gegen das russische Volk.
Eines der am stärksten in Mitleidenschaft gezogenen Länder Südamerikas ist Ecuador. Im Jahr 2021 gingen 20 Prozent seines Bananenexports nach Russland. Die etwa 85 Millionen Kisten sollten auch dieses Jahr verkauft werden und bleiben nun liegen. Ecuador hat letztes Jahr 706 Millionen Dollar aus dem Export von Bananen an den eurasischen Giganten erhalten; außerdem 142 Millionen Dollar für Garnelen; 99 Millionen für Blumen; 28 Millionen für Fisch und 17 Millionen für Kaffee. Diese Einnahmen fallen weg und bedeuten einen hohen finanziellen Verlust für Ecuador.
Paraguay verschickte im Jahr 2021 rund 79.213 Tonnen Rindfleisch nach Russland, seinen zweitgrößten Abnehmer. Das entsprach einem Einkommen von 314 Millionen Dollar. Da Moskau nun vom internationalen Bankensystem (SWIFT) abgetrennt ist, kann Paraguay das Produkt nicht verkaufen.
Mit Brasilien passiert etwas Ähnliches. Das Land exportierte im letzten Jahr Sojabohnen für 343 Millionen Dollar; 167 Million für Geflügelfleisch; 133 Million für Kaffee und 117 Million für Rindfleisch in die Russische Föderation. Nun ist der Verkauf blockiert.
Ein zwischenstaatliches Kooperationsabkommen zwischen Russland und Argentinien zur Nutzung der Kernenergie für friedliche Zwecke ist nun infrage gestellt. Das betrifft insbesondere die Bereiche Grundlagenforschung und angewandte Forschung, Bau und Betrieb von Kernkraftwerken und Reaktoren. Die Finanzierung ist nicht möglich.
Mexiko lieferte unter anderem Autos, Rechner, Bier und Tequila an die Russische Föderation und kaufte dort Düngemittel ein. Letztere sind für die mexikanische Landwirtschaft unverzichtbar, sonst geht die Produktion zurück und die Lebensmittel werden teurer.
Folgen des westlichen "Sanktionskrieges" gegen Russland
Durch den westlichen "Sanktionskrieg" wurde die weltweite Versorgung mit Düngemitteln beeinträchtigt. Das ist eine große Bedrohung für die lateinamerikanische Landwirtschaft, doch für die Vereinigten Staaten von Vorteil. Die USA stellen große Mengen an Düngemitteln her. Die nordamerikanischen Produzenten versuchen bereits, ihre Exporte in Länder der Region zu steigern.
Die Preise für Düngemittel befinden sich derzeit auf ihrem historischen Höchststand und sind im ersten Quartal 2022 um 30 Prozent gestiegen. Das übertrifft die im Jahr 2008 während der globalen Finanzkrise erreichten Werte. Die Lieferungen aus Russland sind unterbrochen, die Welt verliert einen der wichtigsten Produzenten und Exporteure von Stickstoffdüngemitteln und den zweitgrößten Exporteur von Kalium- und Phosphordünger.
2021 verschiffte der eurasische Riese Dünger im Wert von 12,5 Milliarden Dollar. Zu den Hauptabnehmern gehörten Brasilien und die Europäische Union mit jeweils 25 Prozent und die Vereinigten Staaten mit 14 Prozent.
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) berichtete, dass der Lebensmittelpreisindex im März mit 159,3 Punkten einen historischen Höchststand erreichte.
Von den fünf Kategorien, aus denen sich der Preisindex für Lebensmittel zusammensetzt, haben vier noch nie so hohe Preise verzeichnet wie heute: Pflanzenöle (248,6 Punkte), Getreide (170,1), Milchprodukte (145,2) und Fleisch (120,0).
Zwei der Kategorien erhöhten ihre Preise im Februar aufgrund des russisch-ukrainischen Konflikts: Getreide um 17 Prozent und Pflanzenöle um 23 Prozent. Zusammen exportieren Russland und die Ukraine 30 Prozent des Weizens und 20 Prozent des Maises, der weltweit verbraucht wird.
In Peru gibt es seit März heftige soziale Unruhen aufgrund der hohen Preise für Brennstoff, Düngemittel und Lebensmittel. Auch in Mexiko, Kolumbien und Argentinien wachsen Proteste und Demonstrationen gegen die Lebensmittelpreise.
Die gegenwärtigen und zukünftigen Aussichten für die lateinamerikanischen Volkswirtschaften gelten als schwierig, da sie die hohen Kosten für Lebensmittelprodukte tragen müssen, ohne sich auch nur von den enormen Verlusten zu erholen, die durch die COVID-19-Pandemie verursacht wurden.
Als logische Folge kann festgestellt werden, dass die Erpressungskette, die die Vereinigten Staaten nicht nur Russland, sondern mehr als 30 Ländern der Welt auferlegt haben, mehrere lateinamerikanische Nationen in den Abgrund führt.
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