Chile: Tausende feiern Jahrestag der sozialen Erhebung

Vor zwei Jahren zwangen massive soziale Protesten gegen die neoliberale Ordnung die Regierung zur Wahl eines Verfassungskonvents und zur Einleitung eines Referendums über eine neue Verfassung. Am Jahrestag kam es erneut zu Ausschreitungen mit zwei Toten und zahlreichen Verletzten.

Zwei Jahre nach Beginn der historischen Proteste in Chile haben am Montag Tausende von Menschen an Massenprotesten teilgenommen. Sie erinnern damit an die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung und ein Verfassungsreferendum. Diese öffnete die Tür zur Erneuerung der politischen Klasse in einem Land, das als erfolgreichstes Beispiel für neoliberale Politik in Lateinamerika galt.

Der Ausbruch aus den für einen Großteil der Bevölkerung schwierigen sozialen Verhältnissen beendete die Illusion wirtschaftlichen Erfolgs durch neoliberale Politik. Das protestierende Volk brachte zum Ausdruck, dass es der tiefgreifenden Ungleichheit überdrüssig war, die durch ein Wirtschaftsmodell hervorgerufen wurde, das in Chile die Konzentration des Reichtums bei einigen wenigen Familien begünstigte. Dazu zählte auch die des Präsidenten Sebastián Piñera, der nun vor dem Ende seiner Amtszeit steht. Dessen Politik wird von der Mehrheit der Bürger verurteilt. Zudem wird Piñera strafrechtlich verfolgt und bereits wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt. Ihm droht nun ein Amtsenthebungsverfahren.

Die Plaza Italia in Santiago, die von den Demonstranten in Plaza Dignidad (Platz der Würde) umbenannt wurde, war das Zentrum der Feierlichkeiten rund um einen der wichtigsten Volksproteste der letzten Jahre in Lateinamerika.

Ausmaß und Sogwirkung der Proteste waren Anfang Oktober 2019 unvorstellbar, als zunächst Oberstufenschüler über die Drehkreuze der U-Bahn sprangen, um gegen die Fahrpreiserhöhung zu protestieren. Die Proteste wiederholten sich mit rasant steigender Teilnehmerzahl und erreichten in der Nacht des 18. Oktober mit Massenprotesten, bei denen es zu Plünderungen und Brandstiftungen kam, ihren Höhepunkt. Nun forderten nicht mehr nur die Studenten, sondern Demonstranten aus weiten Teilen der Bevölkerung Veränderungen.

Der Staat reagierte auf die Ausschreitungen zunächst mit Härte: Während die Polizeieinheiten nach Belieben Gewalt ausübten, verhängte die Regierung den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre und versuchte, die Demonstranten zu diskreditierten.

Im Ergebnis dieser Proteste standen 34 Tote und Tausende von Verwundeten. Mehr als 350 von ihnen erblindeten, weil die Polizei den Demonstranten direkt in die Augen schoss. Rund 2.500 weitere wurden inhaftiert. Sie gelten heute als "Gefangene des Aufstands". Da sie von der Opposition als politische Gefangene eingestuft werden, läuft derzeit eine Kampagne zu deren Begnadigung.

Anlässlich des zweiten Jahrestages der Proteste starben allerdings am Montag in Chile erneut zwei Menschen. Bei den landesweiten Demonstrationen wurden zudem 56 Menschen verletzt und weitere 450 festgenommen.

Das berichtete Marcelo Araya, Direktor für Ordnung und Sicherheit der chilenischen Polizei. Die weitgehend friedlichen Proteste tausender Menschen seien von einzelnen Gewaltakten überschattet worden.

Nach Angaben der Polizei wurde ein Mann bei einem versuchten Raubüberfall auf ein Geschäft erschossen, während das zweite Todesopfer eine Frau war, die nach einem Sturz von einem Motorrad starb. Beide Vorfälle ereigneten sich in der Hauptstadt Santiago. Araya erklärte:

"Dieser Tag war im Wesentlichen komplex und voller Kontraste."

Er fügte hinzu, dass die chilenische Polizei eine umfangreiche Operation durchgeführt habe, an der sich 20.000 Polizisten beteiligten. Der Einsatz habe bis in die frühen Morgenstunden angedauert.

Insgesamt hätten 232 Demonstrationen stattgefunden. Die Polizei erfasste zudem 109 Barrikaden, 35 Plünderungen, 12 Brandanschläge, 49 Ausschreitungen, 15 Angriffe auf Behörden, 13 Angriffe auf Polizeikasernen und 15 Schadensfälle. Araya wies ferner darauf hin, dass die Plünderungen hauptsächlich in der Metropolregion Santiago stattfanden.

Unter den 56 Verletzten befinden sich 45 Polizeibeamte. Zwei von ihnen sind zurzeit in ernstem Zustand, bei weiteren elf mit konnte der Zustand noch nicht prognostiziert werden.

Der chilenische Innenstaatssekretär Juan Francisco Galli machte die Opposition für die Gewalt verantwortlich. Namentlich nannte er den linken Präsidentschaftskandidaten Gabriel Boric, der in Wahlumfragen vorne liegt, sowie die ehemalige Senatspräsidentin Yasna Provoste. Galli äußerte:

"Abgesehen von den materiellen Urhebern dieser Verbrechen – wer ist letztendlich für diese Gewalt verantwortlich? Ich denke, dass es diejenigen sind, die in unserem Land ein Gefühl der Straffreiheit geschaffen haben, dass die Begehung von Gewaltverbrechen in Chile nicht verurteilenswert ist." 

Er steht dem Vorschlag, die bei den Protesten im November 2019 Inhaftierten als politische Gefangene anzuerkennen und zu begnadigen, bislang ablehnend gegenüber. Chile wählt am 21. November einen neuen Präsidenten.

Mehr zum ThemaKeine Antwort auf soziale Probleme: Rechte Regierungen in Südamerika verlieren Rückhalt