Der Leiter der Abteilung Mittel- und Südamerika bei Human Rights Watch (HRW), José Miguel Vivanco, hat in einem Interview für die Deutsche Welle (DW) den Einsatz von Mehrfachprojektilwerfern gegen Protestierende in Kolumbien verurteilt. Ihm zufolge habe HRW dies zuvor weder in Lateinamerika noch in den USA beobachtet. Der Menschenrechtler präzisierte dabei, dass mit dieser Waffe Tränengas- und Blendgranaten von Panzerwagen heraus horizontal und mit hoher Geschwindigkeit abgeschossen würden.
"Das scheint eine hochgefährliche und hochriskante Vorgehensweise zu sein. Ich glaube, dass ausgerechnet solche Praktiken die Anzeigen wegen der extremen Polizeibrutalität zur Folge haben."
Vivanco bezog sich dabei auf den kolumbianischen Verteidigungsminister Diego Molano, der zuvor ebenfalls in einem Interview für die DW erklärt hatte, dass die Polizei Panzerwagen einsetze, wenn es zu Ausschreitungen komme, die den öffentlichen Frieden gefährdeten oder die in Gewalt gegen andere Mitbürger ausarten könnten.
Von diesen Panzerwagen aus könne es keine Schüsse auf Bürger geben. Das zuvor von HRW veröffentlichte Video müsse gründlich verifiziert werden. Der HRW-Leiter sagte darauf, dass der kolumbianische Verteidigungsminister nicht im Bilde sei, da er erst seit Kurzem das Amt bekleide und keine großen Erfahrungen im Bereich Sicherheit habe. Molano hatte das Amt des Verteidigungsministers am 1. Februar 2021 angetreten, nachdem sein Vorgänger Carlos Holmes Trujillo Ende Januar an den Folgen einer COVID-19-Erkrankung gestorben war. Zugleich verwies Vivanco aber auch auf Fälle von Gewalt und Vandalismus seitens einiger Protestierender.
Die öffentliche Polemik zwischen Vivanco und Molano entstand, nachdem der Menschenrechtler am Mittwoch auf Twitter ein Video mit dem Einsatz eines Mehrfachprojektilwerfers veröffentlicht und vom Verteidigungsministerium eine Erklärung gefordert hatte.
Im Internet tauchten auch andere Videos auf, die mutmaßlich einen Einsatz von Mehrfachprojektilwerfern gegen Protestierende in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá zeigen.
Inzwischen berichtete die kolumbianische Zeitung El Espectador, dass die Polizei in der Nacht zum 5. April im Süden von Bogotá Mehrfachprojektilwerfer des Typs "Venom" eingesetzt habe. Dabei handele es sich um eine der ausgeklügeltsten und kostspieligsten Waffen, die das Spezialkommando ESMAD in seinem Besitz habe, um Menschenversammlungen aufzulösen. Die Anlage habe drei Laderäume mit jeweils zehn Blend- oder Tränengasgranaten. Die Reichweite der Waffe betrage demnach 150 Meter.
Der Abgeordnete des Repräsentantenhauses Sergio Marín teilte seinerseits auf Twitter mit, dass ein Venom-Projektil 71,17 US-Dollar koste. Dabei veröffentlichte er ein Bild mit den Eigenschaften der Waffe aus dem Katalog des Unternehmens CSI Combined System. Demnach könne die 37-Millimeter-Waffe auf Fahrzeugen und Dreifüßen installiert werden. Der Mehrfachprojektilwerfer ermögliche es, in wenigen Sekunden größere Flächen mit Reizstoffen oder Rauch zu decken.
Nachdem die kolumbianische Regierung eine Steuerreform angekündigt hatte, begannen am 28. April im südamerikanischen Land massenhafte Protestveranstaltungen, die bald in gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei ausarteten.
Diese setzte dabei scharfe Munition ein. Nach jüngsten Angaben kamen dabei mindestens 27 Menschen ums Leben. 379 Personen galten zunächst als vermisst.
Im Rahmen der Reform wollte die Regierung unter anderem die steuerlichen Freibeträge senken, die Einkommenssteuer für bestimmte Gruppen erhöhen und die Befreiung von der Mehrwertsteuer für gewisse Waren und Dienstleistungen abschaffen. Die Regierung hatte demnach vor, zusätzlich 6,8 Milliarden US-Dollar einzuziehen, um die von der Corona-Krise verursachten Defizite im Staatshaushalt auszugleichen. Nach landesweiten Protesten und Streikaktionen zog Präsident Iván Duque die geplante Reform zurück.
Mehr zum Thema - Proteste in Kolumbien: Menschenrechtler verurteilten Polizeigewalt gegen Journalisten