Es gilt in den internationalen Beziehungen als etabliert, dass man Staaten anerkennt und nicht Personen. Daher galt die Anerkennung von Juan Guaidó, der sich selbst zum "Interimspräsidenten" von Venezuela ausgerufen hatte, durch die Bundesrepublik Deutschland von Beginn an als völker- und verfassungsrechtlich hoch umstritten.
Verfassungsrechtlich hatte die Selbsternennung keine Basis, da in der venezolanischen Verfassung die Frage der Interimspräsidentschaft sehr klar und unmissverständlich geregelt ist. Dort heißt es in Artikel 233, auf den sich auch das Auswärtige Amt regelmäßig bezog, um just damit die Legitimität von Guaidó als "Interimspräsident" zu beteuern, völlig eindeutig, dass "als zwingende Hinderungsgründe bezüglich der Amtsausübung des Präsidenten oder der Präsidentin der Republik" ausschließlich die folgenden Punkte gelten:
- Sein oder ihr Tod;
- sein oder ihr Rücktritt;
- seine oder ihre durch Urteil des Obersten Gerichtshofes verfügte Absetzung;
- seine oder ihre durch Attest einer vom Obersten Gerichtshof eingesetzten und von der Nationalversammlung bestätigten medizinischen Kommission bescheinigte dauernde körperliche oder geistige Handlungsunfähigkeit;
- die Nichtwahrnehmung des Amtes, die von der Nationalversammlung als solche festgestellt wird;
- sowie die Amtsenthebung durch Volksabstimmung.
Keiner dieser sechs Punkte traf und trifft bis heute auf den amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro zu. Und dann kommt auch noch der entscheidende Teil im Artikel 233, den das Auswärtige Amt bis heute – wohl wissentlich – ignorierte:
"Bis der neue Präsident oder die neue Präsidentin gewählt ist und das Amt antritt, nimmt der Vizepräsident oder die Vizepräsidentin die Präsidentschaft der Republik wahr."
Die damalige und auch nach wie vor amtierende Vizepräsidentin Venezuelas ist Mitglied der Maduro-Regierung und heißt Delcy Rodríguez, nicht Juan Guaidó. Zudem begrenzt die venezolanische Verfassung eine "Interimspräsidentschaft" unmissverständlich auf 90 Tage und auf einen einzigen Zweck, nämlich das Organisieren von Neuwahlen. Nichts davon erfüllte Guaidó.
Auch zwei völkerrechtliche Fachgutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages ließen kein gutes Wort am Agieren der Bundesregierung:
"Mit dem Verweis auf Art. 233 der venezolanischen Verfassung positioniert sich Deutschland gleichzeitig in einer strittigen Frage des venezolanischen Verfassungsrechts. Dies erscheint unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes der 'Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates' völkerrechtlich ebenso fragwürdig wie die (vorzeitige) Anerkennung eines Oppositionspolitikers als Interimspräsidenten, der sich im Machtgefüge eines Staates noch nicht effektiv durchgesetzt hat."
Trotz dieser prekären völkerrechtlichen Bewertung hielt die Bundesregierung seit der Selbstausrufung von Guaidó am 23. Januar 2019 bis jetzt an dessen Anerkennung als "Interimspräsident" fest. Selbst als dessen einziges verbliebenes legitimes Mandat als Mitglied der 2015 gewählten Nationalversammlung verfassungsgemäß am 5. Januar 2021 auslief, hielt sie noch an ihm fest. Als RT-Redakteur Florian Warweg jedoch am 27. Januar unter Bezug auf die eindeutige und von Deutschland mitgetragene Erklärung des Rates der Europäischen Union das Auswärtige Amt auf der Bundespressekonferenz erneut zur Sichtweise auf die Anerkennung von Guaidó befragte, räumte der Sprecher ein: "Die Situation in Venezuela hat sich weiterentwickelt...".