Chile: Verfassungsreferendum, Putschgefahr und partizipative Demokratie als Zukunftsmodell

Chile will sich nun endlich eine neue Verfassung geben. Denn die alte stammt noch aus Pinochet-Zeiten. Doch es gibt sehr unterschiedliche Interessen und auch Widerstände. Nicht zuletzt seitens des amtierenden Präsidenten - auch wenn dieser etwas anderes vorgibt.

von Maria Müller

Am vergangenen Sonntag fand in Chile eine Volksabstimmung für die Erneuerung der Verfassung statt. Sie stammt noch aus der Feder des Diktators Augusto Pinochet. Mit großer Mehrheit befürworteten die Wähler die Veränderung: 78,27 Prozent stimmten dafür, und 79,22 Prozent wünschten dafür eine verfassungsgebende Versammlung ohne Beteiligung von amtierenden Kongressmitgliedern. Die Teilnehmer des neuen Gremiums, "Constituyente" genannt, sollen am vierten April 2021 im Rahmen der Kommunal- und Provinzwahlen einzig dafür neu gewählt werden.

Die Verfassung muss bevölkerungsnah entstehen

Rund 30 Jahre nach Ende einer der brutalsten Diktaturen Lateinamerikas konnten die Mehrheiten des Andenstaates trotz schwerer Repressionsmaßnahmen endlich die Vorstellung durchsetzen, dass die Verfassung aus einem demokratischen Prozess und bevölkerungsnah entstehen muss. Damit erteilten sie dem von Pinochet für Jahrzehnte gesetzlich zementierten neoliberalen Staats- und Wirtschaftsmodell eine deutliche Absage.

Die Verfassung des Generals Pinochet schreibt fest, dass grundlegende Leistungen des Staates wie die Wasser- und Stromversorgung privat geregelt sein müssen, ebenso Bereiche wie Erziehung und Gesundheit oder die Renten. Bei diesem Modell überwacht der Staat lediglich die privaten Dienstleister.

Aufbruch in eine bessere Welt?

Ist die Abstimmung nun ein hart erkämpfter Aufbruch in eine bessere Welt? Die Siegesfeier in den Straßen und Plätzen der Hauptstadt Santiagos war massenhaft und zutiefst beeindruckend. Die Sicherheitsregeln der Pandemie hielten der Begeisterung über den historischen Augenblick offenbar nicht stand. Hunderttausende sangen mit einer Stimme auf der legendären Plaza Italia das Widerstandslied gegen die Diktatur: "Un pueblo unido, jamás será vencido!" (Ein vereintes Volk kann niemals besiegt werden!)

Doch vor den begeisterten Menschen liegt ein steiniger Weg, der noch viele Etappensiege erfordert, um eine reale Veränderung gegen die gerissene und skrupellose Machtelite des Landes durchzusetzen. Kritische Stimmen sehen in der Verfassungsbewegung lediglich ein Ventil, um den empörten Chilenen den Wind aus den Segeln zu nehmen und radikalere Veränderungen zu verhindern. In diesen Tagen kursierte eine Parole unter den Demonstranten und war oft auf den Häuserwänden zu lesen: "Wir haben noch nichts gewonnen!"

Letztlich ist der Parteienvertrag über die Bedingungen, unter denen der Prozess hin zu einer neuen Verfassung stattfinden soll, ein Beispiel dafür. Die "Übereinkunft für den gesellschaftlichen Frieden und die Neue Verfassung" wurde Ende Oktober 2019 unter Ausschluss der damals protestierenden Massenbewegung ausgehandelt. Wie erst seit Kurzem bekannt ist, fand das Ganze unter dem Schatten einer Putschgefahr statt.

Gefahr des "verfassungsrechtlichen Ausnahmezustands"

Vor wenigen Tagen deckte die Sozialministerin Karla Rubilar im chilenischen Fernsehprogramm Tolerancia Cero auf, dass im November 2019 die Demokratie in Gefahr war:

Am 12. November schien die institutionelle Lösung [ein Referendum] nicht auszureichen, um die Gewalt unter dem institutionellen Gesichtspunkt zu kontrollieren. Es gab den Vorschlag, dass nur noch ein verfassungsrechtlicher Ausnahmezustand die Gewalt kontrollieren könne. Manche schlugen vor, dass es ein Ausnahmezustand oder etwas noch Größeres sein müsste.

Brutale Repression der Polizei, Tausende von Opfern

Die brutale Repression der militarisierten Polizei hatte keinen Erfolg und bewirkte nur das Gegenteil. Die von ihr verursachten 30 Todesopfer, die über 180 durch gezielte Gummigeschosse Augenverletzten und Erblindeten, Tausende von Inhaftierten und misshandelten Menschen (darunter auch systematische Folter) heizten den Protest nur noch weiter an. "En Chile se tortura igual que en dictadura" (In Chile wird genauso wie in der Diktatur gefoltert!) war auf zahlreichen Transparenten zu lesen und entlarvte die Beschwerden des Piñeiro über Venezuela als pures Ablenkungsmanöver.

Bis heute herrscht für die berüchtigten Carabiñeros "los Pacos" weitgehende Straflosigkeit. Von den bis Ende des Jahres eingereichten 1.288 Klagen des Staatlichen Instituts für Menschenrechte sind bisher nur 24 von einem Gericht formal anerkannt worden, 1.194 wurden noch nicht einmal untersucht. Auf diese Weise würde es 500 Jahre dauern, bis die Fälle verurteilt werden könnten. Die Staatsanwaltschaft informiert in ihrem Bericht vom Juni 2020 über 8.500 Fälle von Menschenrechtsverletzungen, davon werden 5.600 direkt der Polizei angelastet. Die Bevölkerung sieht, dass die Täter, darunter Mörder, von der Justiz und der Regierung geschützt werden – nicht zuletzt, damit die Befehlskette nach oben nicht öffentlich wird.

Piñeiro will den Erfolg der Abstimmung für sich kassieren

Das Regime des Präsidenten Sebastian Piñeiro hatte unter dem Druck von Millionen Chilenen auf den Straßen das Zugeständnis gemacht, die Verfassung zu erneuern. Wie wendig die Politikerkaste in Chile die Manipulationskunst beherrscht, zeigt die Rede des Präsidenten zum Ergebnis des Referendums: "Wir haben dem Fortbestand der Demokratie zum Sieg verholfen ..." Damit versucht er nun, den Erfolg der ihm hart abgerungenen Volksentscheidung für sich selbst zu verbuchen.

Gleichzeitig warnte er: "Keine Verfassung beginnt am Nullpunkt!", um autoritär klarzustellen, dass die bisherige Staatsform nicht neu überdacht werden könnte. Sie sei unantastbar. Im Januar 2020 erhielt Piñeiro, der seit Pinochet am meisten abgelehnte Präsident, nur noch eine Zustimmungsrate von zehn Prozent. Mit welcher politischen Legitimation droht er Millionen Bürgern, sie sollten mit ihren Reformbestrebungen nicht zu weit gehen?

Auch Teile der Neoliberalen wollen eine Verfassungsreform

Die hohe Ablehnungsrate des Piñeiro-Regimes zeigt, dass ein Teil seiner neoliberalen Gefolgschaft auf Distanz ging – was auch das Ergebnis des Referendums verdeutlicht. Manche rechten Parteien machten Kampagne für die Verfassungsreform. Sie werden nun mit allen Mitteln versuchen, in diesem Prozess Führungs- und Orientierungspositionen zu übernehmen, um auch hier soziale und basisdemokratisch orientierte Grundsatzvorschläge bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern.

Keine "gleichberechtigten" Wahlen

Mit kritischer Sorge glauben viele Beteiligte, dass die Wahlprozedur für die 155 Beauftragten des Verfassungsgremiums (zur Hälfte Frauen) den Einfluss der politischen Parteien wieder stärken werde. Denn sie soll nach den traditionellen Mechanismen der chilenischen Parlamentswahlen ablaufen. Die etablierten Parteien besitzen weit bessere finanzielle und logistische Möglichkeiten. Die Medien stehen ihnen zur Verfügung. Vertreter von sozialen und kulturellen Bewegungen, Nachbarschaftsgruppen oder Studentenorganisationen haben diesem Apparat wenig entgegenzusetzen.

Die heutige Verfassung verbietet es Gewerkschaftsführern und Aktivisten aus sozialen Bewegungen, sich für öffentliche Ämter zu bewerben. Kurz vor dem Referendum wies das Parlament noch einen Antrag zurück, wonach unabhängige Kandidaten Wahlbündnisse bilden könnten, um ihre Chancen für die Wahl in das Verfassungsgremium zu verbessern. Das war eine weitere Ohrfeige für die Bürgerbewegung. Der Anspruch auf direkte Bürgerbeteiligung, der sich im Sieg des Referendums ausdrückt, ist von der Realität noch weit entfernt.

Laut dem Pakt für das Referendum können künftige strukturelle Veränderungen im Staat nur mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden, ganz wie in der bisherigen Verfassung festgelegt. Die aus den konservativen Parteien stammenden Kräfte in der Constituyente würden die notwendigen Minderheitsstimmen dagegen mobilisieren und solche Absichten blockieren können. Im Gegensatz zu den unabhängigen Kandidaten unterstehen sie nicht einem gesetzlichen Bündnisverbot.

Die politischen Parteien im Abseits der Verfassungsbewegung

Während der Kampagne für die Volksabstimmung vertiefte sich der Graben zwischen dem bisherigen repräsentativen System und der direkten Bürgerbeteiligung noch weiter. Die Parteien verschwanden aus dem Blickfeld, die Organisationen der Zivilgesellschaft übernahmen die Mobilisierung und orientierten die Bewegung. Weitab von den etablierten politischen Mächten bildete sich die Massenbewegung aus den losen Gruppen und Nachbarschaftsorganisationen, aus den überall tagenden örtlichen Versammlungen.

Mit ihren Forderungen brachten sie Diskussionen über Gesundheit, Erziehung, Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und die Aufgaben des Staates und seiner Institutionen ins Rollen. Sie haben die Initiative übernommen, die Kampagne und ihre Forderungen entwickelt. Ihnen ist das Ergebnis der Abstimmung zu verdanken. Sie wollen eine neue Verfassung auf der Ebene von Bürgerversammlungen in den Stadtteilen und in den Dörfern der ländlichen Regionen entwickeln.

Das repräsentative System steht in Frage

Heute herrscht in Chile eine wachsende Distanz zwischen Regierenden und Regierten, Parlament und Bevölkerung. Das Parteiensystem steht mehrheitlich in Frage. Zu oft mussten die Chilenen erleben, dass die Forderungen von massenhaften Bewegungen im Parlament weitgehend verwässert oder abgeschmettert wurden. An erster Stelle sei das Verlangen nach dem Ende des privaten Rentensystems genannt. Auch die Verstaatlichung des Erziehungs- und Gesundheitssystems scheitert seit über zehn Jahren im Parlament.

Ob die Widerstandsbewegung in Chile wirklich einen dauerhaften Durchbruch erreicht, hängt nun davon ab, ob es ihr gelingt, genügend vertrauenswürdige Akteure in die Verfassungsversammlung zu bringen. Sie soll in einem Jahr einen Verfassungsentwurf vorlegen, über den dann erneut abgestimmt wird.

Bis die Würde selbstverständlich wird!", hieß die Parole am Tag der Siegesfeiern in Santiago de Chile.

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