von Maria Müller
Am Sonntag waren 7,3 Millionen Wahlberechtigte in dem Andenstaat Bolivien zu einem neuen Urnengang aufgerufen. Mit der seit dem Putsch im Oktober 2019 mehrfach verschobenen Wahlwiederholung sollten nun der Präsident sowie das Parlament demokratisch gewählt bzw. bestätigt werden. Um beim ersten Wahlgang zu gewinnen, muss ein Kandidat entweder 51 Prozent erreichen oder über 40 Prozent und gleichzeitig einen Vorsprung von 10 Prozent vor seinem Rivalen erhalten.
Politische Analytiker befürchteten, die bis an die Zähne bewaffneten Polizei- und Militäreinheiten könnten einen neuerlichen Wahlsieg der MAS-Partei des Evo Morales mit Gewalt verhindern. Doch die große Anzahl von internationalen Wahlbeobachtern trug dazu bei, in der angespannten Lage ein neues Drama zu verhindern.
Um Mitternacht verkündete das private Umfrageinstitut CIESMORI eine erste Hochrechnung aus Umfragen unter den Wählern vor den Wahllokalen. Danach ist Luis Arce, früherer Wirtschaftsminister Boliviens von der MAS-Partei (Bewegung zum Sozialismus) der eindeutige Sieger der Wahlen. Er erhält 52,4 Prozent der Stimmen. Sein Rivale, der neoliberale Carlos Mesa (Partei Bürgergemeinschaft) kommt auf 31,5 Punkte. Der dritte Kandidat, Fernando Camacho von der Partei Creemos (Wir glauben) erreicht 14,1 Prozent. Er vertritt das rechtsradikale Lager in seiner Heimatprovinz Santa Cruz.
"Wir haben die Demokratie und die Hoffnung zurückgewonnen", sagte der sichtbar berührte Luis Arce nach Bekanntwerden dieser Daten und erklärte:
Wir werden die Einheit aufbauen und aus unsren Fehlern lernen.
Die Bolivianer beteiligten sich massiv, diszipliniert und friedlich an den Wahlen. Auch Boliviens Emigranten nahmen in 30 Ländern der Welt an dem Urnengang teil.
Der Präsidentschaftskandidat Luis Arce äußerte sich gestern bei seiner Stimmabgabe vor der Presse:
"Wir hoffen, dass der heutige Tag und die kommenden Tage auf friedliche Weise vonstattengehen. Wir kommen nicht mit den Waffen an die Macht, sondern durch die Wahlurnen".
Wer ist der – wahrscheinliche – neue Präsident Boliviens?
Luis Arce ist ein international angesehener Wirtschaftsexperte und war unter der Regierung von Evo Morales über zehn Jahre lang Wirtschaftsminister (2006 – 2017). Die außergewöhnliche wirtschaftliche Entwicklung Boliviens, das den ersten Platz in ökonomischer und sozialer Entwicklung in Lateinamerika einnahm, ist überwiegend sein Verdienst. Die Übernahme von Teilen der Rohstoffgewinnung durch den Staat und erhöhte Abgaben internationaler Bergbauunternehmen (50 Prozent) ermöglichten eine hervorragende Aufbauleistung Boliviens, die selbst vom Internationalen Währungsfonds anerkannt wurde. Es ist kein Geheimnis, dass die reichen Lithiumvorkommen des Landes die Gelüste internationaler Investoren auf noch größere Gewinne in diesem strategischen Bereich wachsen ließen.
"Wir putschen, gegen wen immer wir wollen" schrieb Elon Musk vor einigen Monaten, der Chef des Tesla-Unternehmens, das für die Akkumulatoren seiner Elektroautos auf diesen kostbaren Rohstoff angewiesen ist.
Militärs bewachten den Wahlablauf
Die Wahlbeobachterin der Europäischen Union, die Spanierin Maria Teresa Mola Sainz, kritisierte am Vortag der Abstimmung, dass der Wahlablauf von Militärs in den Wahllokalen bewacht werden soll, anstatt wie üblich von den Parteidelegierten an den Wahltischen. Außerdem sei das bisherige Kontrollsystem geändert worden. Der Wahlakt selbst dürfe nicht mehr wie bisher fotografiert werden. Letzteres gehört in den meisten Ländern Lateinamerikas zu den Standardregeln einer Wahl.
MAS-Spitzenkandidaten alarmierten den Botschafter der Europäischen Union in Bolivien
Die Präsidentschaftskandidaten der MAS-Partei Luis Arce und sein Stellvertreter David Choquehuanca warnten zuvor Michel Dóczy, den Botschafter der Europäischen Union in Bolivien, vor der mangelnden Transparenz durch die von der "Interimsregierung" verordneten neuen Spielregeln. Das sei ein Alarmzeichen. Die Kandidaten baten den Vertreter der Europäischen Union um "maximale Aufmerksamkeit" am Wahltag.
Handauszählung anstatt schneller Hochrechnung
Nach der Ankunft der internationalen Wahlbeobachter nahm das de-facto-Regime der Jeanine Áñez einige umstrittene Maßnahmen zurück. Wenige Stunden vor dem Öffnen der Wahllokale verkündete der Präsident des Obersten Wahlgerichts, Salvador Romero, dass man das bisherige System für Hochrechnungen und Prognosen "aus Gründen der technischen Vertrauenswürdigkeit" nicht verwenden werde. Es hätte in den vergangenen Tagen bei Probeläufen Schwachstellen im Sicherheitssystem gezeigt.
Es handelt sich um die schnelle Hochrechnung vorläufiger Ergebnisse. Das System hatte der OAS ermöglicht, mit falschen Betrugsvorwürfen vor einem Jahr den Vorwand für einen Putsch zu liefern. Nun werden die Stimmen per Handauszählung ermittelt. Das Verfahren beansprucht zwar mehrere Tage, gibt jedoch weit größere Sicherheitsgarantien. Das Gesetz erlaubt für die Auszählung eine Frist von bis zu einer Woche.
"Die Transparenz der Daten ist wichtiger als ihre Schnelligkeit", so verkündete Romero nun. Auch in Hinblick auf die Notwendigkeit, die Wahlakte in jedem Lokal zu fotografieren, gab es noch kurz vor Beginn eine Wende. Salvador Romero räumte nun die Beschränkungen aus.
Jeder Bürger kann dem Auszählen der Stimmen beiwohnen. Es ist erlaubt, die Wahlakte zu fotografieren."
Unregelmäßigkeiten am Wahltag
Am 17.Oktober verweigerte die bolivianische Einwanderungsbehörde auf dem internationalen Flughafen von La Paz der argentinischen Beobachtermission die Einreise. Sie beschlagnahmte die Ausweispapiere des Abgeordneten Federico Fagioli. Er wurde mehrere Stunden festgehalten.
Die massiven Polizei- und Militäreinsätze in allen größeren Städten Boliviens während und nach den Wahlen riefen gemischte Reaktionen hervor. Sie patrouillierten gemeinsam zu Hunderten in Militärfahrzeugen und führten Personenkontrollen durch. An manchen Orten versperrten sie nach dem Ende der Wahl Zugänge zu den Parteilokalen der MAS. Der Innenminister Arturo Murillo rechtfertigte das Vorgehen damit, den ordentlichen Verlauf des Wahltages zu garantieren.
Manche Beobachter kritisierten die Anwesenheit von bewaffneten Militärs vor und in den Wahllokalen wegen ihrer einschüchternden Wirkung auf die Bürger, was das Wahlverhalten beeinflussen könnte.
Eine Reihe von Unregelmäßigkeiten fand auf lokaler Ebene statt. So fehlten in mehreren Wahllokalen Stimmzettel oder Urnen. Auch konnten 1.200 Indigene nicht wählen, weil ihre besonders gekennzeichneten Wahlscheine "aus technischen Gründen" abhandenkamen. An mehreren Orten kam es zu körperlichen Angriffen auf Repräsentanten der MAS-Partei durch rechtsradikale Individuen. Doch sie konnten die insgesamt friedliche Stimmung des Wahltages nicht trüben.
Eingriff in das Wahlrecht von zehntausenden Bolivianern in Argentinien
Der entscheidendste Eingriff in das Wahlrecht der Bürger Boliviens fand unter der bisherigen "Interimsregierung" durch die zentrale Wahlbehörde statt. Sie entfernte rund 40.000 wahlberechtigte Bolivianer im Ausland ohne Angaben von Gründen aus dem Wahlregister. Die mussten über Internet prüfen, ob sie zu den Wahlen zugelassen sind.
Das traf in erster Linie die in Argentinien lebenden Bolivianer, die dort immerhin 341.001 Wahlberechtigte ausmachen, von denen zwischen 70 und 90 Prozent die MAS-Partei wählen. Die bolivianischen Emigranten machen insgesamt etwa 4,5 Prozent der eigentlich zu registrierenden Wähler aus und sind dafür bekannt, überwiegend Anhänger der Partei von Evo Morales zu sein. Sie wählten über ihre Botschaften und Konsulate in 30 Staaten der Erde. Nur Chile und Panama verweigerten den dort ansässigen Bürgern Boliviens ihr demokratisches Recht, sich an der Wahl zu beteiligen.
Ex-Präsident Evo Morales durfte nicht wählen
Die de-facto-Interimsregierung entzog auch dem Ex-Präsidenten Evo Morales im Zuge verschiedener juristischer Verfolgungen das Wahlrecht. Der Antrag der Putschregierung, ihn durch Interpol festnehmen zu lassen, wurde von der internationalen Polizeiorganisation zurückgewiesen, da die Anklagepunkte politischer Natur seien und für eine Festnahme folglich nicht ausreichten.
Letzte Meldung: Bundestagsabgeordnete fordert Kontrolle des Auszählungsprozesses
Die stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, Heike Hänsel, weist heute in einer Presseerklärung darauf hin, dass die Handauszählungen in Bolivien nur schleppend vorankommen und außerdem intransparent verlaufen. Sie fordert von der deutschen Bundesregierung, ebenfalls darauf hinzuwirken, dass der Auszählungsprozess sauber und transparent verläuft.
"Dieser intransparente Prozess erhöht die Gefahr eines Wahlbetruges, zumal der oppositionelle Kandidat der MAS laut der privaten Erhebungen von Tu Voto Cuenta, Ciesmori und Fundación Jubileo deutlich in Führung liegt. Zugleich wollen Akteure der Putsch-Regierung, allen voran der sogenannte Innenminister Arturo Murillo, offenbar Gewalt schüren, um mit Hilfe von Armee und Polizei eine Rückkehr zur Demokratie doch noch zu verhindern".