Von Maria Müller
Der Innenminister Boliviens, Arturo Murillo, traf sich am sechsten Oktober in Washington mit Luis Almagro und Mike Pompeo zu internen Beratungsgesprächen über die Präsidentschaftswahlen des Andenstaats. Am 18. Oktober ist das Sieben-Millionen-Volk zum Urnengang aufgerufen, um über ein neues Parlament und eine neue Regierung zu entscheiden. Die Wahlen wurden mehrfach unter dem Vorwand der Pandemie verschoben. In Wirklichkeit hat die illegitime Interimsregierung in diesen Monaten eine neue bewaffnete Machtübernahme zum Wahltag vorbereitet.
Hilfe aus den USA bei sensiblen Sicherheitsthemen
Murillo erklärte, er habe mit Pompeo und Almagro über "sensible Sicherheitsthemen" im Zusammenhang mit den Wahlen besprochen. Außerdem habe er um die Verstärkung von Wahlbeobachtern gebeten.
Es handelte sich um sehr sensible Themen in Sachen staatliche Sicherheit im Zuge der Gefahren bei den Wahlen. Die USA können uns in einigen Punkten helfen. Wir ersuchen um Hilfe zur Aufrechterhaltung der Demokratie. Das bedeutet nicht, Soldaten nach Bolivien zu bringen(…)
Nach dem Treffen verkündete Luis Almagro auf Twitter, dass man eine "neuerliche Wahlfälschung" nicht ausschließen könne. Der Innenminister Boliviens habe ihm seine Sorgen wegen der Möglichkeit eines Wahlbetrugs mitgeteilt. Die OAS-Beobachterkommission werde deshalb verstärkt.
Murillo erklärte vor der US-amerikanischen Presse, es gäbe Geheimdienstberichte, wonach hohe Funktionäre der MAS-Partei (Bewegung zum Sozialismus) die junge Anhängerschaft dazu anstiften, sich für den Wahltag zu bewaffnen. Außerdem gebe es in Polizei und Militär Anhänger von Evo Morales, die am 18. Oktober dazu beitragen könnten, "Aufruhr" zu stiften. Die nordamerikanische Öffentlichkeit ist nun auf ein Bürgerkriegsszenario in Bolivien eingestimmt.
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Hochrüsten mitten in der Pandemie zur "Verteidigung der Demokratie"
Bereits seit Beginn der Corona-Krise rüstet die sogenannte "Interimsregierung" Boliviens Polizei und Militär in bisher ungekanntem Ausmaß auf. Das statistische Amt Boliviens informierte, dass im Jahr 2020 die Ausgaben für Waffenkäufe von 850.000 US-Dollar (unter Evo Morales) auf 15,25 Millionen US-Dollar gestiegen sind. Auf dem Höhepunkt der Pandemie im März kaufte man für 10,6 Millionen US-Dollar Waffen anstatt Beatmungsgeräte, Tests und medizinische Ausrüstungen, was viele Bolivianer kritisierten.
Der Abgeordnete Montaño wies im Parlament darauf hin, dass selbst die Ministerrunde Waffen für den persönlichen Gebrauch kaufte, ohne Waffenscheine zu besitzen.
Als ob sie in den Krieg oder in einen bewaffneten Konflikt ziehen würden”, so der Parlamentarier.
Arturo Murillo rechtfertigt diese massive Aufrüstung unverhohlen:
Wir müssen die Demokratie verteidigen". Und weiter: "Die Wahlen kommen am 18. Oktober. Die Präsidentin hat klar gesagt, sie (die MAS-Anhänger) sollen nicht frech werden, die Polizei wird handeln, das Militär wird handeln.
Die bolivianische Menschenrechtskommission hat inzwischen eine offizielle Anfrage ans Parlament gestellt, um zu klären, wo ein Teil der nun verschwundenen Waffen verblieben ist.
Manipulierte Umfragedaten unterstellen eine Wahlniederlage der MAS
Arturo Murillo verbreitet die Botschaft:
Sie wissen genau, dass sie die Wahlen verlieren werden.
Der Innenminister, der als der wahre Chef der Putschregierung gilt, stützt sich dabei auf eine Umfrage des Instituts CIESMORI von Ende September. Darin wird der bisherige Vorsprung zwischen acht und zehn Punkten von Luis Arce gegenüber seinem Konkurrenten Carlos Mesa auf 5,9 Prozent reduziert (Arce 30,6 Prozent, Mesa 24,7 Prozent).
Allein der Verzicht auf eine eigene Kandidatur der bisherigen "Interimspräsidentin" Jeanine Áñez reicht als Erklärung für diese Zahlen nicht aus. Die Landbevölkerung ist in der Studie statistisch weit unterrepräsentiert, analog zu den OAS-Hochrechnungen 2019.
Die Soziologin, Botschafterin, Abgeordnete und frühere Vizepräsidentin der Abgeordnetenkammer Boliviens, Romina Pérez, analysierte detailliert die CIESMORI-Umfrage. Sie kommt zu dem Schluss, dass es sich um manipulierte Daten handelt, ganz in der Tradition von früheren Umfragen von CIESMORI, die Evo Morales generell zehn Prozent weniger Stimmen zuschrieben. Hier die Analyse im Original.
Das Narrativ für die gewaltsame Konfrontation
Die gegenwärtige Regierung belegt mit dem CIESMORI-Ergebnis gegenüber ihren internationalen Partnern die Behauptung von einer bereits feststehenden Wahlniederlage der MAS-Partei. Auch die nationalen Medien verbreiten das Narrativ, sie könnte einen Wahlsieg mit über 10 Prozent Vorsprung nicht mehr erreichen. Ein zweiter Urnengang sei unvermeidlich, die Wahlniederlage vorgezeichnet. Das zielt auf die städtischen Schichten, die dem medialen Einfluss in weit größerem Ausmaß unterliegen als die kulturell eigenständige indigene Landbevölkerung. Doch das liefert auch die Argumente für eine angebliche bewaffnete Revolte der MAS-Jugend.
CELAG-Umfrage bedeutet Wahlsieg der MAS im ersten Durchgang
Die Manipulation wurde bislang von den Fakten widerlegt. Seit Beginn des Jahres zeigen die Untersuchungen verschiedener Institute, dass die MAS die weitab stärkste Einzelpartei Boliviens ist. Ihre Anhänger bilden einen stabilen Wählerblock. In den vergangenen Wahlen 2019 gewann Evo Morales gemäß den Handauszählungen im ganzen Land mit 47 Prozent. Der Putsch raubte ihm den Wahlsieg. Aktuell bescheinigt die letzte Umfrage des Strategischen Zentrums für Geopolitik in Lateinamerika (CELAG) vom 29. September dem MAS-Kandidaten Luis Arce einen ähnlichen Anteil: 44,4 Prozent der gültigen Stimmen, sein Rivale Carlos Mesa erhält 34,0 Punkte. An dritter Stelle kommt der Rechtsaußen-Kandidat Fernando Camacho mit 15,2 Prozent.
Im Falle eines zweiten Urnenganges zwischen Arce und Mesa würde es laut CELAG-Umfrage ein technisches Patt geben. Allerdings hatten sich 13,1 Prozent noch nicht entschieden. Gleichzeitig wird eine hohe Wahlbeteiligung von 84,7 Prozent vorausgesagt.
Alle Vorhersagen von Wahlintentionen sparen die Stimmen der Bolivianer im Ausland aus. Allein in Argentinien leben rund 120.000 Bolivianer, in den anderen Nachbarländern weitere Zehntausende. Sie votieren erfahrungsgemäß ganz überwiegend für die MAS-Partei. Bei Hochrechnungen werden sie zuletzt registriert. Laut Klagen der Auslandsbolivianer versuchen manche Konsulate, ihr Wahlrecht zu beschränken.
Bei solchen Wahlprognosen ist es völlig unsinnig, der stärksten politischen Kraft zu unterstellen, sie wolle die Wahlen durch Aufruhr und Chaos platzen lassen. Doch alles deutet darauf hin, dass die mit den USA verbündeten neoliberalen und rechtsextremen Kräfte einen neuen Putsch vorbereiten. Die verschiedenen Teile des Puzzles sind zu deutlich aufeinander abgestimmt.
Gefahr einer False-Flag-Operation am Wahltag
Insofern lässt die von Murillo verbreitete Botschaft alle Alarmglocken schrillen. Nach dem gleichen Muster wie 2019 könnte ein digitales Statistikmanöver den Vorwurf der Fälschung und in der Folge Gewaltakte auslösen, die dann der MAS unterstellt werden. Sie würden in kürzester Zeit Chaos verbreiten und den Grund für eine Unterbrechung des Urnenganges liefern. Ein neuer Putsch.
Der besorgte Expräsident Evo Morales rief aus seinem Exil in Argentinien die bolivianische Bevölkerung dazu auf, sich auf keinen Fall provozieren zu lassen.
Die neuerlich verstärkte Anwesenheit der OAS-Wahlexperten, deren Bericht im Oktober 2019 den Putsch provozierte und inzwischen mehrfach wissenschaftlich widerlegt wurde, lässt nichts Gutes ahnen. Sie wurden natürlich von den heutigen Machthabern erneut eingeladen.
Dringende Bitte auch an die Europäische Union um eine vollständige Beobachtermission
Luis Arce, der Präsidentschaftskandidat der MAS-Partei, warnte am sechsten Oktober die internationale Öffentlichkeit davor, dass in Bolivien ein "hohes Risiko für die Restauration der Demokratie" besteht. Deshalb forderte er die Vereinten Nationen, die Staatengemeinschaft Lateinamerikas und der Karibik (CELAC), die Europäische Union und die Organisation amerikanischer Staaten (OAS) dazu auf, während und nach dem Wahltag am 18. Oktober ein aktives Beobachterkontingent einzusetzen. Auf Twitter schrieb er:
Wir machen die internationale Gemeinschaft auf die Risiken aufmerksam, denen sich die Wiederherstellung der Demokratie in #Bolivien gegenübersieht. Wir bitten Sie um Ihre Unterstützung und aktive Beobachtung während des Wahlkampfs, des Stichtags am 18. Oktober und der Tage danach #EleccionesBo.
In seinem Brief an die obersten Autoritäten der verschiedenen Staatenbündnisse schrieb Luis Arce: Antonio Gutérres (UNO), Andrés Manuel López Obrador (CELAC), Josep Borrell (EU) und an den Präsidenten des Permanenten Rates der OAS, Luis Fernando Cordero.
Ihre Anwesenheit wird für die Bürger von großer Bedeutung sein, ein Faktor der Abschreckung gegenüber denjenigen, die versuchen, die demokratischen Rechte zu untergraben, und eine wichtige Garantie für die Achtung der Wahlergebnisse.
Der Aufruf mit dem Ersuchen um internationale Wahlbeobachter widerspricht den Unterstellungen der Putschregierung. Wie sollte die sozialistische Bewegung bewaffnete Terroraktionen, Aufruhr und Bürgerkrieg vorbereiten, wenn sie sich gleichzeitig mit der dringenden Bitte an die internationale Gemeinschaft wendet, die Situation im Lande zu kontrollieren?
Die Europäische Union will sich nur symbolisch beteiligen.
Außer der OAS haben weitere internationale Beobachtermissionen eine Teilnahme zugesagt. So das Carter Center, die Interamerikanische Union der Wahlbehörden und die Amerikanische Vereinigung von Wahlorganen. Die Europäische Union zieht sich allerdings auffällig aus der Affäre: Sie will nur fünf oder sechs Wahlexperten schicken, obwohl sie noch Anfang 2020 gut hundert Beobachter zugesichert hatte. Als Begründung dient die Corona-Pandemie. Sollte das geplante Putschszenario bei dieser – bisherigen – Entscheidung eine Rolle spielen? Eine effektive Wahlbeobachtung durch die EU könnte die Demokratie und Menschenleben in Bolivien retten. Geopolitische Szenarien wurden nur zu oft von False-Flag Terroraktionen eingeläutet.
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