von Maria Müller
Seit dem Putsch gegen Evo Morales vor zehn Monaten kommt Bolivien nicht zur Ruhe. Die Interimspräsidentin Jeanine Áñez regiert das Land im Ausnahmezustand mit äußerster Härte bei der Verfolgung oppositioneller Kräfte. Demokratische Wahlen werden immer wieder verschoben, angebliche neue "Wellen" der COVID-19-Pandemie dienen als Vorwand. Wer sich nicht an die Quarantäneregeln hält, wird mit bis zu zehn Jahren Haft bedroht.
Schwere Verletzungen der Menschenrechte
Die Áñez-Regierung wurde am 27. Juli von der "Internationalen Klinik der Menschenrechte", einer Abteilung der Universität Harvard, schwerer Verbrechen beschuldigt. Zusammen mit Rechtsprofessoren der Universitäten Yale und Belfast stellte man in einer Studie außergerichtliche Hinrichtungen, Verschleppungen und Folter an Gewerkschaftern, sozialen Aktivisten und Anhängern des früheren Präsidenten Morales fest. Zudem werden darin Fälle extremer Polizei- und Militärgewalt gegen Demonstranten (38 Tote) dokumentiert. Kritisiert wird auch die Parteilichkeit der Justiz sowie die Einschränkung der Pressefreiheit, die mit Verhaftungen von regierungskritischen Journalisten einhergehe.
Die Führungspersönlichkeiten der oppositionellen Partei MAS (Bewegung zum Sozialismus) würden politisch verfolgt, zu Hunderten inhaftiert und mit diffusen politischen Anklagen daran gehindert, sich als Kandidaten für die kommenden Wahlen aufzustellen. Die Partei selbst wollte die Regierung verbieten. Das Oberste Wahlgericht wies diesen Versuch jedoch zurück. Der Harvard-Bericht wird in der deutschen Presse komplett ignoriert.
Auch die Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission, Michelle Bachelet, beklagte im Februar in Genf schwere Missachtungen der Bürgerrechte in Bolivien. Doch Bachelet wird von der internationalen Presse nur im Fall von Venezuela zitiert, ihre Kritik an der Regierung in Bolivien fällt dagegen unter den Tisch.
Verfassung erfordert Neuwahlen in 90 Tagen
Nach der Verfassung Boliviens muss ein Interimspräsident so schnell wie möglich im Rahmen von drei Monaten Neuwahlen ausrufen. Nach mehrfachen Terminverschiebungen wird fast ein Jahr seit dem Putsch vergangen sein, bis die Bolivianer einen neuen Präsidenten, Vizepräsidenten sowie Abgeordnete und Senatoren wählen können. Termin soll jetzt der 18. Oktober sein.
Bereits kurz nach ihrer Amtsübernahme (als zweite Vizepräsidentin der Abgeordnetenkammer) verkündete Áñez am 11. November 2019 Neuwahlen. Das war und ist – laut Verfassung – ihre einzige Aufgabe. Sie erklärte damals:
Ich werde zu Neuwahlen aufrufen, damit wir am 22. Januar schon einen gewählten Präsidenten haben.
Doch anschließend ließ sie die früheren Mitglieder des Obersten Wahlgerichts wegen angeblicher Fälschungen verhaften. Die so lahmgelegte Institution konnte die angekündigten Wahlverpflichtungen nicht erfüllen. Ein neu eingesetztes provisorisches Gremium verschob den Urnengang dann auf den 3. Mai. Doch bereits am 22. März beschloss dieses Wahlgericht, auch den Termin im Mai platzen zu lassen. Denn die COVID-19-Pandemie habe Bolivien erreicht.
Virusepidemie als Vorwand für Wahlverschiebung
Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Elf-Millionen-Bevölkerung 32 positiv Getestete. Die Regierung machte die Grenzen dicht und verkündete den Ausnahmezustand. Am 25. März verkündet Áñez, dass ein Zuwiderhandeln gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie mit zehn Jahren Haft bestraft wird.
Die rechten Kräfte des Parteienspektrums befürworten ein Aussetzen der Wahlen. Die MAS mit ihrem neuen Präsidentschaftskandidaten Luis Arce hält die Wahlen hingegen aufgrund der niedrigen Anzahl testpositiver Fälle für durchführbar. In anderen Staaten mit weit mehr Fällen wurde trotz der Epidemie gewählt. In Frankreich und Spanien sowie in der Dominikanischen Republik gab es Präsidentschafts- und Kommunalwahlen.
Nachdem sich die Epidemie ab Mitte Mai in Bolivien etwas stärker ausgebreitet hatte, stimmte auch die MAS einer neuerlichen Vereinbarung zu. Diesmal sollte es der 6. September sein.
Der breite politische Konsens, an dem sich auch die starke Gewerkschaftsbewegung COB beteiligte, hielt jedoch nicht lange. Auch der 6. September wurde als Termin abgesetzt. Bereits am 23. Juli beschloss dann das provisorische Oberste Wahlgericht, die Wahlen auf den 18. Oktober zu verlegen.
Die MAS und die Gewerkschaften haben vergeblich einen früheren Termin vorgeschlagen – doch weder die Áñez-Regierung noch das rechte Parteienspektrum zeigten Interesse an einer Verhandlungslösung. Daran konnten auch Dialogaufrufe der UN nichts ändern. Schließlich verabschiedete die im Kongress mehrheitlich vertretene MAS ein Wahlgesetz, mit dem zumindest der 18. Oktober unverrückbar fixiert würde.
Generalmobilisierung zur Verteidigung der Demokratie
Für einen Teil der Bevölkerung Boliviens war das Gezerre um den Wahltermin zu viel. Man fühlte sich verraten und mobilisierte zur Verteidigung der Demokratie. Ende Juli riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik auf, der sich für zehn Tage im ganzen Land ausbreitete. Es gab Demonstrationen in allen größeren Städten, Hunderte von Straßenblockaden machten die wichtigsten Verkehrsadern Boliviens unpassierbar.
"Nieder mit der Diktatur", "Neuwahlen am 6. September" und "Rücktritt von Áñez" waren die Forderungen. Hier war die Basis der MAS auf der Straße, die Sympathisanten von Morales, die Bauern aus den ländlichen Gebieten, die Arbeiter aus den Industriezonen und aus dem reichen Bergbau des Andenstaates. Auch die Umwelt- und Frauenbewegung beteiligten sich.
Áñez droht Demonstranten mit Militär
Nachdem die Áñez-Regierung damit gedroht hatte, das Militär gegen die Blockaden einzusetzen, rief die COB dazu auf, die Proteste zu beenden. Man wollte neuerliche Hinrichtungen wie im November 2019 in den Orten Senkata und Sacaba verhindern. Auch Morales sprach sich dafür aus, den Termin vom 18. Oktober zu akzeptieren. In einigen Gebieten zogen sich die Menschen jedoch erst Tage später unwillig von den Blockaden zurück.
Obwohl in den Aufrufen der Gewerkschaften explizit festgelegt war, den Transport von medizinischen Gütern nicht zu behindern, soll es an verschiedenen Orten dazu gekommen sein. Die Protestbewegung habe unter anderen Sauerstoffwagen blockiert und damit den Tod von 50 COVID-19-Kranken verursacht. Ihre Anhänger würden sogar medizinisches Personal auf der Straße angreifen und belästigen. Außerdem sei das Virus durch die Proteste noch weiter verbreitet worden. Das behaupten jedenfalls viele Medien und auch Interimspräsidentin Áñez, die mit solchen Anschuldigungen gegen ihre politischen Widersacher punkten will.
Die Widersprüche zwischen der MAS und ihrer sozialen Basis in der Frage der Straßenblockaden könnten zu einem Stimmenverlust der linken Oppositionskraft beitragen – wenn man den jüngsten Umfrageergebnissen glauben kann. Die Taktik der Rechten, Wahlen immer wieder hinauszuzögern, die Opposition möglichst davon auszuschließen und so innere Widersprüche zu provozieren, scheint den bisherigen Wählervorsprung der MAS abzuschwächen.
Umfragen sehen MAS vorne – Manipulation befürchtet
Nach allen Umfrageergebnissen war die MAS mit ihrem Kandidaten Luis Arce, dem früheren Wirtschaftsminister von Evo Morales, auch in den Monaten nach dem Putsch die stärkste politische Kraft in Bolivien, trotz – oder gerade wegen – der politischen Verfolgung. Seit Januar 2020 hielt sie ihren Vorsprung mit zehn bis 15 Prozent vor den anderen Parteien und kam am 7. Juli laut der Umfrage von CELAG auf 41,9 Prozent gegenüber 26,8 Prozent ihres neoliberalen Rivalen Carlos Mesa. Sie hätte damit die Wahl im ersten Durchgang gewonnen. Bei diesen Umfragen wurden neben städtischen auch die ländlichen Gebiete berücksichtigt, wo die MAS ein stabiles Wählerpotenzial hält.
Eine Umfrage vom 16. August der Firma Mercados y Muestras stützt sich dagegen ausschließlich auf Erhebungen in Großstädten. Danach habe der MAS-Präsidentschaftskandidat Arce fast 20 Punkte verloren und käme nur noch auf 24 Prozent. Er habe nun nur noch einen knappen Vorsprung vor seinem neoliberalen Rivalen Mesa von der Partei Comunidad Ciudadana, die demnach auf 20 Prozent kommt.
Die Daten kommen allerdings nur aus den Städten, womit sich dieselbe Täuschung wiederholt, mit der man Morales 2019 den Wahlsieg raubte: Die Stimmen auf dem Land wurden im Oktober zeitlich erst am Ende der Auszählungen registriert, das vorläufige Teilergebnis hingegen als "sichere Tendenz" verbreitet.
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Mit Umfragen ohne statistische Objektivität und die dazugehörige Medienpropaganda soll nun der oberflächliche Nachrichtenkonsument im In- und Ausland an niedrigere Zustimmungsraten für den MAS-Kandidaten gewöhnt werden. Im Vorfeld einer kommenden Wahlfälschung müssen die Umfragedaten entsprechend angepasst werden. Auch Fake-Umfragen auf Facebook erfüllen diesen Zweck.
Diese Manipulation zeugt andererseits von der Schwäche der neoliberalen Kräfte und der Putschisten. Jede dieser Organisationen bleibt für sich allein hinter der MAS zurück. Die Interimspräsidentin und gleichzeitige Präsidentschaftskandidatin Jeanine Áñez kommt nur auf zwölf Prozent, und Luis Camacho, der rechtsextreme Anführer der gewalttätigen Putschbewegung gegen Evo Morales, erreicht nur noch sechs Prozent.
Lediglich Carlos Mesa von der Comunidad Ciudadana ist mit Zustimmungswerten von 20 konkurrenzfähig. Das Bild würde sich jedoch verändern, falls sich die konservativen und rechtsextremen Organisationen zu einer Koalition zusammenschließen würden. Dann könnten sie in einer zweiten Runde die MAS möglicherweise überstimmen. Doch bis zum 18. Oktober ist es noch lange hin.
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