von Maria Müller
Welches Parlament kann innerhalb von drei Monaten 500 Gesetze prüfen, diskutieren, sich von Experten beraten lassen sowie die Öffentlichkeit über die Inhalte informieren? Den Wählern Zeit lassen, zu reagieren, sich über ihre Interessenverbände oder auf der Straße dafür oder dagegen zu äußern? Letztlich all das, was normalerweise zur Tätigkeit eines regulären demokratischen Parlaments gehört?
Das ist unmöglich. Erst recht nicht unter den Bedingungen der Pandemie-Kontaktbeschränkungen. In Uruguay hat man die Produktion einer Legislaturperiode innerhalb von drei Monaten unter solchen Bedingungen durchgewunken: Dafür sind laut Verfassung fünf Jahre vorgesehen. Der Senat stimmte in fünf Tagen über täglich rund 95 Artikel der verbliebenen 476 Gesetzestexte ab.
Bei Venezuela wäre Geschrei groß
Würde das Gleiche in Venezuela geschehen: Brüssel, Washington und die Lima-Gruppe würden gegen die "Maßnahmen der Maduro-Diktatur" protestieren und das nächste Sanktionspaket verabschieden.
Man könnte den Vorgang ein parlamentarisches "Aussetzen" der Demokratie nennen, um das Wort "Putsch" zu vermeiden. Die in jeder Hinsicht stabile Lage des Landes benötigte in keinem Bereich eine "Notlösung" oder sogenannte "Dringlichkeitsmaßnahmen".
Die großen europäischen Medien verschweigen bisher diese Entwicklung. So kann die EU wegschauen und den anstehenden Freihandelsvertrag mit dem Mercosur auch mit weniger sozialer Gerechtigkeit oder arbeitsrechtlichen Standards über die Bühne bringen. Auch Probleme mit neuen Gesetzen zum Erleichtern von Geldwäsche und Steuerhinterziehungen dürften dabei kein Hindernis sein.
Viel Kritik am "Mammut-Gesetz"
Kritik an dem Mega-Gesetzespaket "Gesetz zur dringlichen Bearbeitung", im Volksmund LUC genannt, kam aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft sowie von internationalen Organisationen. Von den Gewerkschaften wegen Rückschritten im Arbeitsrecht, von Experten der UNO wegen der Beschneidungen der Informationsfreiheit bzw. des Rechtes auf Zugang zu staatlichen Informationen, desgleichen von Vertretern der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wegen Problemen des Streikrechts oder von Staatsanwälten, die verfassungsrechtlich problematische Veränderungen im Prozess- und Strafrecht Uruguays kritisierten.
Die bisherige Landvergabe an produzierende Bauernfamilien durch das Institut für Besiedlung ist nun nicht mehr an soziale Kriterien und die Verpflichtung zur Produktivität gebunden. Man machte den Weg frei für illegitimen Spekulationsbesitz auf Staatskosten. Die bisherige Autonomie und die Strukturen zur Selbstregierung im Erziehungswesen wurden stark eingeschränkt, die Strafen für minderjährige Täter verschärft, die Strafverkürzungen bei guter Führung abgeschafft. Das Paket erlaubt nächtliche Razzien in Wohnungen und gibt Polizeibeamten explizit Rechtssicherheit zum Töten.
Neues "Pressedelikt" und weniger Meinungsfreiheit
Vertreter der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) kritisierten Beschränkungen der freien Meinungsäußerung und die Schaffung von Pressedelikten. Der Rektor der staatlichen Universität und die Leiter der Fakultäten protestierten dagegen, dass die Investitionen in Lehre und Forschung um 15 Prozent gekürzt werden.
Sie alle hatten in den jeweiligen Ausschüssen des Parlaments nur 20 Minuten Vortragszeit. Es gab keine Möglichkeit zu weiteren Befragungen oder zu einem vertieften Austausch.
Die rechte Parteienkoalition, die im Wahlkampf die Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten zu einem zentralen Thema machte und dafür unermüdlich Venezuela anprangerte, beschwerte sich nun gegenüber der Kritik seitens der Vereinten Nationen, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) oder der CIDH, der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte, darüber, dass "ausländische Organisationen" sich in "interne Angelegenheiten" Uruguays einmischten – als hätte das Land nicht schon seit Jahrzehnten entsprechende international verbindliche Verträge unterzeichnet.
Kontrolle der Geldwäsche vermindert
Besonders auffällig sind neue Regelungen, die die Kontrollschranken für Geldwäsche oder sonstige illegale Manöver im Finanzsektor herabsenken. Dieser Teil des Dringlichkeitspakets heißt "Gesetz über die Finanzfreiheit". Präsident Luis Lacalle Pou begründet die neuen Maßnahmen damit, dass man "Erleichterungen" im Geldwesen anbieten müsse, um ausländische Investitionen ins Land zu locken.
"Die festgelegte Obergrenze von 100.000 US-Dollar für Barzahlungen verstößt gegen die Transparenz, gegen alle Gesetze zur Bekämpfung der Geldwäsche, und eröffnet die Möglichkeit von Korruption, da bei Barzahlungen keine Kontrolle besteht", erklärt Gabriela Mordecki vom Wirtschaftsinstitut der öffentlichen Universität Uruguays. Zuvor lag der Höchstbetrag bei 4.000 US-Dollar.
Pablo Ferrari, früherer Vize im Wirtschaftsministerium, führt aus, "man muss daran erinnern, dass Uruguay als Steuerparadies und nicht kooperationswilliger Finanzplatz"eingestuft war. Es gelang dem Land nur mit großer Mühe, wieder internationale Vertrauenswürdigkeit zu erlangen".
Vor dem Amtsantritt 2005 durch die Frente Amplio stand Uruguay auf der schwarzen Liste der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Ein weiteres "Dringlichkeitsgesetz" besagt, dass Personen und/oder Firmen, die in Uruguay investieren wollen, nun bereits nach zwei Monaten einen Steuerwohnsitz erhalten können, anstatt nach drei Monaten, wie es internationalen Standards entspricht. Nicht nur die Opposition, sondern auch Mitglieder der Regierungskoalition forderten, die weltweit anerkannten Normen zu respektieren, da sonst ebenfalls die Gefahr drohe, auf schwarze Listen zu kommen.
Ambivalente Toleranz gegenüber Finanzdelikten
Auch unter der Regierung von Luis Alberto Lacalle de Herrera (1990 bis 1995), des Vaters des aktuellen Präsidenten, funktionierten zahlreiche Banken in der Altstadt Montevideos als Schwarzgelddepots und sicherer Hafen für Kapitalflucht.
Der aktuelle Präsident Luis Lacalle Pou firmierte noch im März 2019 als Garant für ein Konto in der ITAU-Bank, worüber (laut argentinischer Staatsanwaltschaft) Odebrecht-Bestechungsgelder in Höhe von neun Millionen US-Dollar in mehrere Länder flossen.
Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt
In Artikel 11 des Gesetzespakets wird ein neues Delikt geschaffen, das auch die Pressefreiheit eindeutig einschränkt. Er lautet: "Wer die Polizeibehörde bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben oder anlässlich dieser Aufgaben behindert, beleidigt, Gegenstände wirft, bedroht oder mit Worten, Schriften oder Taten beleidigt, wird mit einer Haftstrafe von drei bis achtzehn Monaten bestraft."
Die Interamerikanische Presseorganisation wies darauf hin, dass hier ein neues "Kommunikationsdelikt" geschaffen wird, das die Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse einschränkt, "ausgerechnet in einer Zeit, in der eine Kontroverse über den Missbrauch polizeilicher Gewalt auf der Welt besteht".
Geheimdienst für den Präsidenten
Ein weiteres brisantes Thema ist die Schaffung eines Geheimdienstes "für strategische Aufgaben", der direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Er unterliegt dadurch wenig oder gar keinen demokratischen Kontrollen. Lacalle Pou folgt damit dem Beispiel von Chiles Präsident Sebastian Piñera, der vor wenigen Monaten ein gleiches Gesetz im Eilverfahren inmitten der Pandemie durchbrachte. Er gab damals freimütig zu, dass damit die massenhafte Protestbewegung gegen seine Regierung bekämpft werden soll. Nichts anderes ist von Lacalle Pou und seinem Geheimdienst zu erwarten.
Einschränkungen von Gewerkschaftsrechten
In Sachen Beschränkungen der Gewerkschaftsfreiheit betonte der Senator der Frente Amplio, Óscar Andrade, dass eine Reihe von Artikeln wortwörtlich den Gesetzen aus den Zeiten der Diktatur übernommen wurde. Es ist u. a. verboten, eine Fabrik, wenn auch nur vorübergehend, zu besetzen, um sich gegen unternehmerische Vergehen zu wehren. Auch Straßensperren bei Streiks stehen unter Strafe, denn sie gelten nicht – anders als mit Blick auf Venezuela – als heroische Kampfmethoden für Demokratie und Freiheit.
Von nun an hat der Arbeitnehmer nicht mehr automatisch das Recht, sein Gehalt über elektronische Medien mitgeteilt zu bekommen und aus dem Geldautomaten zu entnehmen. Das war eine von der vorherigen Regierung eingeführte Entwicklung zum bargeldlosen Alltag als Programm für die persönliche Sicherheit und um Gehälter und Sozialbeiträge transparent zu machen. Frühere Generationen von Arbeitnehmern haben sehr darunter gelitten, dass viele Arbeitgeber ihre Pflichtbeiträge insgeheim nicht in die staatliche Rentenkasse einzahlten.
Ab jetzt müssen Arbeiter und Angestellte mit dem Chef aushandeln, ob sie das Gehalt bar in die Hand oder über einen Geldautomaten erhalten. Darüber wird der Schwarzarbeit Vorschub geleistet.
Proteste verhindern Privatisierungen der Staatsbetriebe
Aufgrund des heftigen Protests der Opposition, aber auch der Ablehnung von Teilen der Regierungskoalition konnte die Privatisierung der Staatsbetriebe nicht durchgesetzt werden. Das betrifft die Bereiche der Wasser- und Stromversorgung sowie der Telefon- und Internetsysteme. Deren Nutzung durch private Konkurrenten konnte man verhindern. Die staatliche Ölraffinerie (ANCAP) wurde zwar verpflichtet, ihre Preise an den internationalen Markt anzupassen, doch der freie Import von billigerem, bereits raffiniertem Kraftstoff konnte aufgehalten werden. Das Plebiszit von 1995 gegen die Privatisierungen ist immerhin Verfassungsrecht und bremste den politischen Willen der neuen Regierung.
Das Paket bringt Vorteile für die großen Exporteure, vor allem im Agrarsektor, und benachteiligt die vom Inlandsmarkt abhängigen kleinen und mittleren Unternehmen (70 Prozent der Arbeitsplätze). Die Arbeitnehmer sehen drastischen Lohnkürzungen entgegen, der Wohlfahrtsstaat wird insgesamt zurückgeschraubt.
Laut dem Abgeordneten Daniel Cacciani von der oppositionellen Frente Amplio (FA) bestehe die einzige "Dringlichkeit" für die Regierung darin, die Sache rasch über die Bühne zu bringen, bevor ihre Koalition auseinanderbricht:
Wenn man diese Initiative in einem Jahr debattieren würde, hätte sie keine parlamentarische Mehrheit mehr.