von Maria Müller
Venezuela selbst hatte am 14. Mai vor dem besagten Londoner Gericht einen Prozess gegen die Bank of England angestrengt. Die Regierung fordert die Rückgabe eines Teils des venezolanischen Staatsbesitzes von 31 Tonnen Gold im Gegenwert von rund einer Milliarde US-Dollar.
Die Bank of England ging ebenfalls vor den Commercial Court. Sie weigert sich seit 2018, dem venezolanischen Staat dieses Vermögen auszuhändigen und argumentiert, nicht entscheiden zu können, wem sie den Goldschatz übergeben solle. Deshalb fordert die Bank von dem Handelsgericht ein Urteil darüber, ob Nicolás Maduro oder Juan Guaidó der rechtmäßige Präsident Venezuelas sei.
Der Prozess der Deutschen Bank
Auch die Deutsche Bank wurde beim gleichen Londoner Schiedsgericht vorstellig. Sie erhebt heute Anspruch auf 20 Tonnen von venezolanischem Gold, das ebenfalls in den Gewölben der britischen Bank lagert. Dieser umfangreiche Bestand an Edelmetall stammt von der Absicherung für einen mit der venezolanischen Regierung abgeschlossenen Kreditvertrag über 750 Millionen US-Dollar aus dem Jahr 2016. Die Laufzeit des Kredits sollte allerdings bis 2021 dauern. Da Venezuela die Zinszahlungen jedoch bis jetzt nicht mehr bedienen konnte, fordert die Deutsche Bank nun diese Garantie für sich ein.
Allerdings steigerte sich inzwischen der damalige Wert des Edelmetalls und legte im Fall der Garantien für die Deutsche Bank um rund 123 Millionen US-Dollar zu. Der Karibikstaat hat Anspruch auf diese Differenz.
Die Deutsche Bank könnte jedoch von der Trump-Regierung beschuldigt werden, gegen die Wirtschaftssanktionen zu verstoßen und ebenfalls sanktioniert werden, falls sie diese 123 Millionen Wertzuwachs an Venezuela erstattet.
Auch die Deutsche Bank will deshalb wissen, wem dieser Wertüberschuss zusteht: Der venezolanischen Regierung unter Präsident Nicolás Maduro oder dem Anführer eines Teils der Opposition in Venezuela, Juan Guaidó. Letzterer wird zwar von 50 Staaten als angeblich rechtmäßiger Präsident des Landes anerkannt, doch weitere 150 Staaten erkennen ihn als solchen nicht an. Heute besitzt dieser politische Schüler Donald Trumps nur noch wenig Rückhalt in Venezuela. Seine Verbindungen zu Korruption, Drogenkartellen und zu der mit beschlagnahmten Staatsgeldern finanzierten US-Söldnertruppe Silvercorp für eine kriegerische Aktion gegen Venezuela haben sein Ansehen im eigenen Land schwer beschädigt.
Ein britisches Handelsgericht soll nun den Präsidenten Venezuelas bestimmen
Um zu beurteilen, ob ein solches Unterfangen nicht bei weitem die Kompetenzen eines Handelsgerichtes übersteigt, sei an die bisherigen Aufgaben dieses Commerce Court erinnert:
Das Gericht befasst sich mit komplexen Fällen, die sich aus nationalen und internationalen Geschäftsstreitigkeiten ergeben. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf internationalem Handel, Banken, Versicherungen und Rohstoffen. Es ist auch das Hauptaufsichtsgericht für Schiedsverfahren in London.
Es mutet doch bizarr an, dass ein solches Handelsgericht die politische Qualifikation und Definitionsgewalt besitzen soll, festzulegen, wer der rechtmäßige Präsident eines Landes sei. In der Folge könnte so das Staatsvermögen einer ganzen Nation enteignet werden. Millionen Wähler würden damit übergangen und nicht nach ihrer Meinung gefragt. So etwas ist neu in der Geschichte der Justiz. Was passiert, wenn das Beispiel Schule macht?
Der angestrengte Prozess der Deutschen Bank wurde bis vor kurzem von Medien und Politik völlig verschwiegen. Das Ganze kam erst vergangene Woche durch einen Artikel des Presseportals Bloomberg ans Licht. An diesem Tag fand nämlich die erste Verhandlungsrunde im Streit um das venezolanische Gold in London statt.
Die fragwürdige Prozessstrategie des Handelsgerichts
Der Richter Nigel Teare hat anerkannt, dass ein Urteil über den Verbleib des venezolanischen Staatsvermögens Dringlichkeit hat. Angesichts der Corona-Epidemie und der daraus entstandenen speziellen Notsituation für die Bevölkerung braucht das Land Finanzen für Medikamente und Lebensmittel sowie technische Ausrüstungen für Krankenhäuser und Infrastruktur. Dennoch verschob er die Verhandlung auf einen Termin "nicht vor dem 22. Juni", wobei dann in einer mehrtägigen Verhandlung zuerst geklärt werden müsse, wer der rechtmäßige Präsident Venezuelas sei. Die Feststellung würde "den Weg ebnen" für alle weiteren juristischen Klärungen. Eine fragwürdige Taktik.
Das Gericht folgte mit dieser Entscheidung der politischen Argumentation des Verteidigers von Juan Guaidó. Er argumentierte, dass das Gold nicht der Zentralbank Venezuelas gehöre, sondern "der Republik" in Person des Präsidenten. Eine zumindest diskussionswürdige Sichtweise.
Bisher galten die Zentralbanken von Staaten in aller Regel als Organ der nationalen Währungs- und Finanzpolitik und als Verwalter der staatlichen Vermögenswerte. Hier schafft der Commerce Court in London einen neuen, bedenklichen Präzedenzfall von großer Tragweite.
Die Taktik der parallelen Institutionen im Ausland
In seinem Versuch, sich selbst und seinem Bemühen um Machtübernahme den Schein von Legalität zu verleihen, gründete Juan Guaidó außerhalb Venezuelas mehrere Parallelinstitutionen. Sie dienen als Ansprechpartner der mit ihm verbündeten europäischen und nordamerikanischen Staaten und ihrer Gerichte, wenn es um den Verkauf des venezolanischen Staatsbesitzes im Ausland geht.
So gründete Guaidó im Juli 2019 im Exil auch ein zweites, paralleles Leitungsgremium – der venezolanischen Zentralbank! Den gleichen Mechanismus installierte er auch im Falle der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA und ihrer Filiale Citgo in den USA, die heute von einem US-amerikanischen Gericht dort zum Verkauf freigegeben wird.
Der von Guaidó eingesetzte Parallel-"Chef" der Zentralbank Venezuelas kommentierte den Beschluss des Gerichts in London mit Genugtuung, berichtet Reuters. Der Richter habe die Argumente des oppositionellen Bankdirektoriums übernommen. Wenn die Justiz den Konflikt zwischen zwei Präsidenten entscheide, sei der Weg frei für einen weiteren Prozess, der vor dem gleichen Gericht anhängig sei. Es gehe um 120 Millionen US-Dollar. Das ist der Betrag, den die Deutsche Bank an Venezuela zurückzahlen muss…
Ein Lösungsweg mit Hilfe der UN
Anfang Mai hatte die venezolanische Regierung das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) gebeten, eine Vermittlerrolle in dem Konflikt zu übernehmen. Der venezolanische Goldschatz solle der UN zur Verfügung gestellt werden, um damit medizinische und humanitäre Hilfsmaßnahmen in dem Karibikstaat durchzuführen.
Am 27. Mai berichtete Reuters über ein Interview mit dem Gouverneur der venezolanischen Zentralbank, Calixto Ortega, der eine optimistische Prognose hinsichtlich dieser Lösung zum Ausdruck brachte. Auch die New York Times berichtete über dieses Gespräch.
Der Fortgang der Verhandlungen Venezuelas mit UNDP-Vertretern sei demnach positiv verlaufen. Man habe vereinbart, einen Teil des venezolanischen Goldes in der Bank of England für den Kauf von Lebensmitteln und Medikamenten während der Coronavirus-Pandemie zu verwenden.
Im Gespräch mit Reuters erklärte Ortega, dass die Vereinten Nationen das Geld direkt von der Bank of England erhalten werden, so dass jede Möglichkeit von Veruntreuung der Mittel ausgeschaltet sei. Dieser Verdacht war eines der bisherigen Hauptargumente der britischen Banker, mit dem sie die Rückgabe des venezolanischen Staatsbesitzes bisher verweigerten. Wobei der direkte Druck seitens der Trump-Administration auf die Regierung Englands und auf die Staatsbank wohl der entscheidende Faktor war und bleibt.
Allerdings sei jedes UN-Programm in Venezuela nach wie vor davon abhängig, dass die Bank of England die Mittel dafür freigibt.
Wir haben kein Einkommen, keine Möglichkeit, einen Bargeldumlauf zu schaffen, und inmitten einer Pandemie keinen Zugang zu unseren Geldern im Ausland", klagte Ortega in diesem Gespräch.
Das Gericht schafft einen gefährlichen Präzedenzfall
Doch für den Fall, dass das Handelsgericht in London per Gerichtsentscheid Juan Guaidó – und nicht Nicolás Maduro – als rechtmäßigen Präsidenten anerkennt, wird eine humanitäre Versorgung der Bevölkerung Venezuelas mit der Hilfe durch das Entwicklungsprogramm der UN wenig Chancen haben. Denn Guaidó erklärte sich mit Trump stets einer Meinung, dass die Sanktionen und damit der Leidensdruck auf die Venezolaner möglichst noch zu erhöhen seien, um so einen Umsturz aus der dadurch erhofften Verzweiflung herbeizuführen.
Hier wird ein weiterer Präzedenzfall geschaffen, wenn nicht gar ein Freibrief. Die Frage ist, ob eine ausländische Bank die Währungs- und Goldreserven eines fremden Staatshaushaltes an sich ziehen kann, weil eine Regierung vermeintliche oder tatsächliche Demokratiedefizite aufweist. Wieviele Regierungen dieser Erde könnten dann von anderen Staaten zu den gleichen Enteignungen verurteilt werden? Wieviele Regierungen sind mit weitgehenden Legitimationsverlusten konfrontiert, obwohl sie im offiziellen Politik- und Medienjargon nicht als "Regime" diskreditiert werden?
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