Ecuador? Ecuador, da war doch was...? Ja, es war die ecuadorianische Botschaft in London die dem Whistleblower und Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks, Julian Assange, Asyl gewährte. Das war vor dem von Washington und seinen transatlantischen Partnern begrüßten Machtwechsel in Quito.
Auch das arme Land mit seinen 17 Millionen Einwohnern an der nordwestlichen Küste Südamerikas befindet sich schon längst im Bannkreis von COVID-19. Offiziell führt Ecuador weniger als 7.500 Corona-Infizierte und 333 damit verbundene Todesfälle. Doch die Zahlen der Regierung von Lenín Moreno sind mit Vorsicht zu genießen, wenn laut anderer Quellen "die Behörden allein in der Stadt Guayaquil, dem Epizentrum der Pandemie, täglich über 100 Leichen einsammeln" müssen.
Unter dem Druck von COVID-19 ist die medizinische Infrastruktur samt der Versorgung mit medizinischen Gütern im Wesentlichen zusammengebrochen. Ärzte und Krankenschwestern verarbeiten Müllsäcke nicht nur zu Schutzanzügen, sondern auch zu Schutzmasken. Ein weitaus größeres Problem als der Mangel an Ausrüstung sei jedoch der Mangel an Ärzten.
Ich habe meinen [kranken] Vater zu Hause, weil kein Krankenhaus in der Lage ist, ihn oder andere zu behandeln (...) Aber glauben Sie mir, es sterben Menschen. Es gibt kein medizinisches Personal, keine Krankenschwestern. Es gibt niemanden, der arbeitet (...)", erklärt Cäsar Figueroa, ein Krankenpfleger in Guayaquil.
Dutzende von Videos sind im Umlauf, in denen Leichen zu sehen sind, die auf den Straßen liegen. Die verantwortlichen Behörden sind der Herausforderung nicht mehr gewachsen. Auch Särge werden inzwischen knapp, sodass Verstorbene in Kartons begraben oder einfach in Lastwagencontainern entsorgt werden.
Der als "der Mathematiker" bekannte Datenanalyst aus Guayaquil Juan José Illingworth, kommt aufgrund seiner Analysen allein für die ecuadorianischen Provinz Guayas auf mindestens 7.600 mit Corona in Zusammenhang stehende Tote (Stand 9. April). Ohnedies ist die Hafenstadt Guayaquil eine der am stärksten betroffenen Metropolen Lateinamerikas.
In den vergangenen drei Wochen bargen Polizei und Militär offiziell fast 800 Leichen in der besonders von der COVID-19 betroffenen Stadt. Eine Spezialeinheit sammelte 771 Leichen ein, erklärte der Chef einer eigens eingerichteten Corona-Sondereinheit, Jorge Wated, auf Twitter. Weil die Leichenhallen voll sind, seien weitere 631 Leichen von der Sondereinheit aus Krankenhäusern fortgebracht worden.
Bereits im vergangenen Monat trat der ecuadorianische Gesundheitsminister zurück und verurteilte die Unfähigkeit der Regierung Morenos.
Die Situation in Ecuador ist äußerst beschissen. Ich weiß nicht, wie man all das was vor Ort passiert, auf Englisch erklären kann. Der neue Gesundheitsminister ist ein unglaublicher Idiot. Ob Coronavirus oder nicht, das Land hat große Probleme mit dieser äußerst inkompetenten Regierung", beschreibt die ecuadorianische Journalistin Camila Escalant in drastischen Worten die Situation vor Ort.
Verantwortlich für die katastrophale Lage sei vor allem auch die Regierung Morenos.
Vertrauen Sie mir, ich war schon drinnen [in Krankenhäusern, Anm. d. Red.]. Die Situation ist prekär. Es gibt keine Handschuhe, keine Masken. Es ist nichts zu sehen. Ganz Ecuador ist ein Land des Nichts. Es gibt keine Regierung. Es gibt keinen Präsidenten", ergänzt Escalante.
Seit seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 dreht Moreno die Uhren wieder zurück. Eine wohlfahrtsstaatliche Maßnahme nach der anderen wurde eingestellt. Unter dem früheren Präsidenten Rafael Correa diente ein Teil der Devisen aus den Ölvorkommen des Landes dazu, den Inlandspreis für Kraftstoff zu subventionieren und damit die Kaufkraft der sozial schwachen Bevölkerungsteile und den Binnenmarkt zu stärken. Es war eine Umverteilung von Staatseinkünften an die Bürger.
Unter Correas Nachfolger kam wieder eine neoliberale Wirtschaftspolitik zum Zuge, die in erster Linie der Unternehmerseite nützt. Während Moreno den ecuadorianischen Großbetrieben etwa Steuerschulden in Höhe von 2,3 Milliarden US-Dollar erließ, wurde zeitgleich die Subventionierung des Benzinpreises eingestellt. Dies war eine der Konditionen für den Erhalt eines IWF-Kredits in Höhe von 4,2 Milliarden US-Dollar. Der Kredit selbst war unmittelbar nach der Ausweisung von Assange aus der ecuadorianischen Botschaft in London in Aussicht gestellt worden.
Nachdem Benzin und Diesel bis zu 100 Prozent teurer wurden, kam es daraufhin im gesamten Land unter der Führung der mächtigen Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (CONAIE) zu Massenprotesten. Moreno lenkte schließlich ein und kündigte an, die Preiserhöhungen wieder rückgängig zu machen. Zuvor waren bei den heftigsten Unruhen seit Jahrzehnten offiziell sieben Menschen ums Leben gekommen, über 1.000 verletzt und mehr als 1.300 verhaftet worden.
Doch auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wurde die neoliberale Knute des IWF spürbar. So strich die Regierung Morenos im Jahr 2019 auf Verlangen des Währungsfonds das Gesundheitsbudget des Landes um 36 Prozent zusammen, was sich in der Corona-Krise nun bitter rächt.
Alberto Acosta, ehemaliger Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und 2007 Minister für Energie und Bergbau unter Correa, erklärt dazu:
(...) Einen echten Frieden können wir nur erreichen, wenn wir die Abhängigkeit vom IWF aufgeben. Denn Frieden fordert soziale und ökologische Gerechtigkeit, beides geht nur zusammen einher.
Für den Experten geht es demnach um nichts weniger als "die Entwicklung der Demokratie des Landes".
Laut Acosta seien "nicht alle Todesfälle auf COVID-19 zurückzuführen", sondern viele auch auf andere Krankheiten.
So leiden beispielsweise besonders mit dem Coronavirus infizierte Diabetiker, da sie aufgrund der prekären Situation keine Dialyse erhalten würden.
Oder diejenigen, die einen Herzinfarkt hatten, aber nicht behandelt werden konnten. Trotzdem wird es aufgrund des Zusammenbruchs der Gesundheitsdienste letztlich zu einer Auswirkung von COVID-19", erläutert Acosta.
Doch nicht nur sozialer Raubbau prägt die von Washington und seinen Partnern protegierte Regierung Morenos, auch gegenüber politischen Opponenten ist man alles andere als zimperlich.
Viele der kompetentesten Führer dieses Landes waren gezwungen zu fliehen oder flohen, als bekannt wurde, dass politische Verfolgung hier zur Normalität werden würde. Alles unterliegt der Zensur; Ärzte haben Angst, das Wort zu ergreifen; Reporter haben Angst, ihre Arbeit zu tun", berichtet die Journalistin Escalante.
Hinzu kommt, dass Moreno, wie andere regional von den USA unterstützte Staaten auch, die rund 1.000 kubanischen Ärzte, die im Land arbeiteten und das Rückgrat des öffentlichen Gesundheitssystems bildeten, des Landes verweisen ließ.
Als sie das Land verließen, gab es keine Spezialisten, die sie ersetzen konnten. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass wir jetzt keine angemessene Antwort auf das Virus geben können", klagt der Arzt im Ruhestand, Ricardo Ramírez, aus Guayaquil.
Längst ist Ecuador, insbesondere die Hafenstadt Guayaquil, zum lateinamerikanischen Epizentrum der Corona-Pandemie geworden.
Ende Dezember 2019 gewährte der IWF schließlich die Auszahlung der 4,2 Milliarden US-Dollar im Rahmen des sogenannten Extended Fund Facility (EFF) gestreckt auf die nächsten drei Jahre. Durch die Zusage der mächtigen Bretton-Woods-Institution mit Sitz in Washington ist nun auch der Weg frei für Kredite in Höhe von fast sechs Milliarden US-Dollar. Diese kommen von multilateralen Finanzinstitutionen wie der Lateinamerikanischen Entwicklungsbank (CAF), der Interamerikanischen Bank für Entwicklung (IDB), des Lateinamerikanischen Rücklagefonds (Flar) und der Weltbank.
Bereits Ende vergangenen Jahres hatte Lenín Moreno vor allem zwei Verantwortliche für die massiven Unruhen und die prekäre Lage im Land ausgemacht: seinen Vorgänger Correa und Venezuela unter Nicolás Maduro. Ihr Ziel sei ein "linker Umsturz" in Ecuador. Auch Venezuela hatte im März 2020 um einen IWF-Kredit gebeten, allerdings um die Auswirkungen der Corona-Pandemie im Land besser bekämpfen zu können. Der Antrag wurde abgelehnt.
Mehr zum Thema - "Ohne IWF blühte die Wirtschaft": Ecuador und der Fall Assange (Interview)