von Kani Tuyala
Seit einiger Zeit rückt 'Afrika' in den Fokus auch der bundesdeutschen Politik, dies jedoch vor allem um der Frage auf den Grund zu gehen, wie sich der Migrantenstrom aus dem "schwarzen Kontinent" Richtung Europa möglichst rasch trockenlegen lässt. Allerlei wohlklingende Schlagworte, wie etwa die eines "Marshall-Plans für Afrika" oder eines "Compact with Africa", machen seitdem die Runde. Stets betont wird dabei der Aspekt der "Partnerschaft", zudem der der Augenhöhe, um den Kontinent Hand in Hand endlich aus dem Elend zu führen. Doch haben die entwicklungspolitischen Ansätze eines gemeinsam: Ähnlich der Aufteilung Afrikas bei der Afrika-Konferenz 1884 entstehen sie am Reißbrett selbsternannter "Afrika-Experten" – die Bevölkerungen und Entscheidungsträger vor Ort dienen bestenfalls als Statisten.
Dass die Bundesregierung den Posten eines Afrikabeauftragten eingeführt hat, ist Ausdruck des Anspruchs, Afrika nun aber wirklich "helfen" zu wollen und soll diesem ein Gesicht geben. Seit dem Jahr 2010 ist es das Gesicht von Günter Nooke, einem ehemaligen DDR-Bürgerrechtler und seit 1996 Mitglied der CDU. In seiner aktuellen Funktion obliegt ihm die Koordinierung und Inspiration der deutschen Afrika-Politik. Dass der CDU-Mann vor Arbeitsbeginn keinerlei Expertise vorzuweisen hatte, spricht Bände, spielte aber keinerlei Rolle für die Besetzung dieses exotische Postens.
Vor einigen Tagen gab er der Axel-Springer-Zeitung B.Z. ein Interview zu den Themen Migration, Handel, Entwicklung und die Auswirkungen der Kolonialzeit. Wer nun jedoch interessante Einsichten und Perspektiven aufgrund der Komplexität der Themen erwartete, wurde bitterlich enttäuscht.
Nooke legt bereits schwungvoll los:
Lange Zeit haben wir zu wenig auf wirtschaftliche Entwicklung gesetzt und zu viel im Hilfsmodus gedacht. Im Kampf gegen den Hunger haben wir einiges erreicht.
Haben "wir" das tatsächlich? Dass die transatlantische und damit auch bundesdeutsche "Entwicklungshilfe" Afrika mehr geschadet als genutzt hat, gilt nunmehr als Binsenweisheit, wenn es denn je darum ging. Dass etliche Länder beachtliche Erfolge vorzuweisen haben, geschah vielmehr trotz und nicht wegen der Hilfe, mit der die strukturelle Förderung der Unterentwicklung moralisch geschminkt wurde. Doch an solche Zusammenhänge verschwendet Nooke keinerlei Gedanken. Es ist auch nicht bekannt, dass er sie zumindest diskutiert hätte. Der 59-Jährige weiß aber, warum Afrika jetzt mutmaßlich wieder "zurück falle". Wie könnte es anders sein, der Grund ist das Schreckgespenst des "afrikanischen Bevölkerungswachstums".
Alle warnen sie schließlich vor der "demographischen Zeitbombe", die demnach in Afrika tickt. Für die bescheidenen wirtschaftlichen und sozialen Erfolge etlicher afrikanischer Staaten und den Stillstand in vielen anderen stellt das Wachstum der Bevölkerung tatsächlich ein Problem dar. Doch ist Afrika "überbevölkert", wie es oftmals im gleichen Atemzug heißt? 1,2 Milliarden Menschen leben auf dem europäischen Nachbarkontinent, in China sind es 1,3. Nun muss allerdings die Tatsache in Betracht gezogen werden, dass es sich bei Afrika um den zweitgrößten Kontinent der Welt handelt, in dem neben China, auch Indien, die Vereinigten Staaten, ganz Westeuropa, Mexiko und Japan Platz finden und der Kontinent immer noch nicht aus allen Nähten platzen würde. Nicht das Wachstum der Bevölkerung ist das Problem, sondern die sogenannte Unterentwicklung, die diese Entwicklung fördert. Darüber hinaus mutet es aufgrund der schieren Größe des Kontinents bizarr an, dass eine Person als "Beauftragter" für über fünfzig Staaten dienen soll. Doch bei Afrika geht alles.
Doch der deutsche Afrika-Beauftragte ist mit seinen Gedanken schon ganz woanders. Vom Bevölkerungswachstum ist der Weg kurz zur Nookeschen Feststellung:
Afrika ist anders. Die Lösungen Europas können nicht die Lösungen Afrikas sein. Die Gesellschaften dort funktionieren anders. Das hat mit Clan-Strukturen zu tun, der Rolle von Stammesfürsten, der Vielzahl an Ethnien und tradierten Verhaltensweisen.
Ist denn nicht jeder Kontinent anders als der andere? Nein, Afrika, dieses mysteriös-exotische Land, fällt komplett aus dem Rahmen. Als Beispiel für die Andersartigkeit "Afrikas" verweist Nooke passend zum Strickmuster seiner Einlassungen nicht etwa auf Kultur und Geschichte der afrikanischen Völker, sondern auf die Gebärfreudigkeit der Frauen und nie enden wollende Kinderwünsche der Männer.
In Niger bekommen die Frauen im Schnitt 7,3 Kinder, die Männer hätten gern elf!
Da haben wir es doch: Der irrationale Kopulationsdrang des afrikanischen Mannes und die willigen weiblichen Gebärmaschinen sind das Problem! Gegenüber RT Deutsch äußerte sich der Experte für die Geschichte Afrikas und Kolonialismus-Forscher Prof. Dr. Jürgen Zimmerer von der Universität Hamburg zu diesem tief im Bewusstsein der westlichen Welt verankerten Narrativ:
Die Zahl von 7,3 Kindern pro Frau bezeichnet einen extremen Wert und ist überdies veraltet. Tatsächlich liegt die durchschnittliche Kinderzahl erheblich niedriger, Tendenz fallend. Die hohe Geburtenrate ist vor allem der Tatsache einer hohen Kindersterblichkeit, kombiniert mit dem weitgehenden Fehlen eines staatlichen Vorsorgesystems, gerade für das Alter, geschuldet. Die Absicherung über Kinder, die das Erwachsenenalter erreichen, ist eine rationale Vorsorgestrategie. Das war im vormodernen Europa ganz ähnlich. Die Kinderzahl ist also Resultat der Armut und nicht einfach umgekehrt.
Der Afrika-Beauftragte lässt sich durch derlei Details nicht aus dem Konzept bringen. Schlimmer, ihm scheinen die genannten Zusammenhänge nicht bekannt zu sein. Denn Tage nach seinem BZ-Interview legte er zum Thema nach:
Das heißt doch nicht, dass eine Gesellschaft besser oder wertvoller sein soll als die andere. Aber da steckt viel traditionelles Denken dahinter. Das muss man wissen, um das Bevölkerungswachstum oder auch den politischen Umgang mit Verhütungsmitteln dort zu verstehen.
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Stattdessen wartet dieser mit dem zweiten und damit offensichtlich letzten nennenswerten Beispiel afrikanischer Andersartigkeit auf.
Natürlich hat es auch mit dem Klima zu tun. Bei 35 Grad und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit ist die Arbeitsproduktivität auf dem Bau eine andere als hier. Es wird auch ganz wenig in Afrika selbst produziert. Das meiste wird importiert. Deshalb machen wir uns etwas vor, wenn wir sagen: Der Handel ist wichtig.
Diese Kausalkette hat es in sich. Die Probleme des Handels mit und in Afrika haben ihren Ursprung in der natürlichen Unproduktivität des Afrikaners. Eine an Absurdität kaum zu überbietende, fatalistische Argumentation und obendrein eine für Abermillionen, von morgens bis abends hart und zu oft verzweifelt, sich abrackernder Afrikaner unerträgliche Beleidigung, die mit der Realität selbstverständlich nichts gemeinsam hat. Ganz Afrika ein einziger Glutofen, der einen 24/7 zum Schläfchen unter dem Baobab zwingt?
Der Kontinent ist groß und vielfältig. Es gibt 48 Länder im subsaharischen Afrika, die Länder sind in sehr unterschiedlichen Klima- und Landnutzungszonen gelegen, viele Länder sind Binnenländer und viele Länder haben eine sehr geringe Bevölkerung, weshalb eine Differenzierung notwendig ist", klären die Entwicklungsexperten Robert Kappel und Birte Pfeiffer auf.
Differenziertheit ist Nookes Sache jedoch ganz offensichtlich nicht. Das man sich etwas vormache, wenn man den Handel für wichtig halte, entbehrt jeder, wohlgemerkt rationalen, Nachvollziehbarkeit. Doch für den Ex-Bürgerrechtler "muss es erst etwas zum Handeln geben. Und da haben wir in Afrika außer ein paar landwirtschaftlichen Produkten und Rohstoffen noch nicht viel", weiß Nooke zu berichten. Das Fragen des Handels seiner Ansicht nach unwichtig sind, erschließt sich dem geneigten Leser trotzdem nicht ohne Weiteres. Freilich ist die Mehrheit der Experten ohnehin gänzlich anderer Meinung. Sind es doch vor allem die verzerrten und diktierten Wettbewerbsbedingungen von EU und Co., die jedes Entstehen eigener Produktivität und wachsender Binnen- und Exportmärkte ersticken.
Natürlich wird in Afrika produziert. Dass diese Produkte den Weltmarkt nicht im erwünschten Umfang erreichen, hat eine Vielzahl von Gründen, zu denen etwa die Abschottung von Märkten im Globalen Norden aber auch die Zerstörung lokaler Wirtschaftszweige durch billige Konkurrenz aus den Globalen Norden gehört. Die Orientierung auf Rohstoffextraktion und den Bedarf der Industrien des Globalen Nordens ist genau eine der lange nachwirkenden kolonialen Folgen, die Nooke nicht anspricht", erläutert Jürgen Zimmerer von der Uni Hamburg.
Doch obwohl Afrika eben anders ist und europäische Lösungen daher nicht in Frage kommen, sind es doch genau diese, die das CDU-Mitglied für die Lösung der Probleme vor Ort empfiehlt. Es ist das Wesen des Neoliberalismus transatlantischer Prägung, an dem Afrika genesen soll. "Produktivität" wird in Gewinn bemessen. "Ausbildung" erfolgt zum Zweck der Entwicklung zukünftiger Arbeitnehmer zur Einspeisung in den Arbeitsmarkt. "Entwicklung" wird gemessen am Grad der "Industrialisierung", des BIP und BSP.
Nooke hat dann allerdings keineswegs in allem was er sagt per se Unrecht.
Aber es fehlt an ausgebildeten Arbeitern und Infrastruktur. Einen Container in einen afrikanischen Hafen zu bringen ist billiger, als ein paar hundert Kilometer in Afrika über Land zu transportieren. Der innerafrikanische Handel ist gehemmt. Zölle müssten fallen, wie in Ostafrika geschehen. Kenia, Tansania, Uganda: Da ist eine Handelsregion entstanden. Aber Schmiergelder braucht es trotzdem.
Das sind genauso real existierende Herausforderungen, wie die oft beschworene "Korruption". Doch die Probleme Afrikas sind eben nach wie vor bei weitem nicht gänzlich hausgemacht, was auch Nookes Beitrag suggeriert. Und nicht nur das, er verschleiert und beschönigt die externen Faktoren, die sich nach wie vor massiv auf Afrikas "Entwicklung" auswirken. So etwa wenn es um die Kolonialzeit geht.
Der Kalte Krieg hat Afrika mehr geschadet als die Kolonialzeit", behauptet der deutsche Afrika-Beauftragte frei von der Leber weg.
Dass gute 500 Jahre der Versklavung, des Raubs, des Mordens und der systematischen Entmenschlichung den Bewohnern Afrikas weniger geschadet haben sollen als wenige Jahrzehnte des Kalten Krieges, ist eine ungeheuerliche Relativierung der imperialen Ausbeutung im Namen der zivilisatorischen Überlegenheit.
Aber das alles ist ohnehin lange her. Tatsächlich? Nicht ohne Grund, wird in diesem Zusammenhang von neokolonialen Macht- und Wirtschaftsstrukturen, durch die allzu viele der korrupten afrikanischen Regierungen nach wie vor kontrolliert werden. Doch davon will der Afrikabeauftragte nichts wissen. Kann es denn sein, dass Nooke auch noch nie etwas von Persönlichkeiten wie etwa Thomas Sankara oder Patrice Lumumba gehört hat? Im Fall von Sankara deckten westliche Geheimdienste dessen Ermordung durch einen späteren "korrupten" Machthaber, im Fall von Lumumba betrieben sie dessen Beseitigung direkt. Beide standen Sie für eine selbstbestimmte panafrikanische Vision für den Kontinent.
Doch das fiel bei der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich auf keinerlei Wohlwollen. Am 15. Oktober jährte sich die mutmaßliche Ermordung des Anti-Imperialisten Sankara durch den späteren Präsidenten Burkina Fasos und Geschöpf der französischen Kolonialzeit, Blaise Compaoré, zum 31. Mal. Als Präsident des Landes, das er von Obervolta in Burkina Faso (das Land der aufrechten Menschen) umbenannte, reformierte Sankara unter anderem das Justizsystem, startete Impfkampagnen zur Reduzierung von Epidemien und förderte Projekte zur Umverteilung von Land und zur Unterstützung der Armen.
In seinen vier Jahren an der Staatsspitze setzte sich seine Regierung erfolgreich für das Verbot der Beschneidung und von Zwangsehen, die Gründung von Frauenorganisationen und etwa Alphabetisierungsprogramme speziell für Frauen ein. Nach der Machtübernahme beendete sein ehemaliger Weggefährte den Aufbruch und die Uhr wurde zurückgedreht.
Herr Compaore steuerte Burkina Faso [zurück] in ein starkes Bündnis mit Frankreich, das enge politische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Beziehungen zu vielen seiner ehemaligen Kolonien in Afrika unterhält", heißt es dazu in einem renommierten britischen Medienerzeugnis.
Anders als Sankara, der die Institutionen als verlängerte Arme des Neokolonialismus begriff, kooperierte Compaoré mit IWF und Weltbank, um das Land zu "entwickeln" – was ihm nicht gelingen sollte. Dafür durfte er allerdings siebenundzwanzig Jahre an der Macht bleiben und lebt nach seiner Flucht im Jahr 2014 heute unbehelligt in der Elfenbeinküste. Burkina Faso gilt heute als vielleicht ärmstes Land der Erde.
Doch für Nooke handelt es sich bei diesen keineswegs einmaligen Vorgängen auf afrikanischem Boden offensichtlich nicht um die Folgen der Kolonialzeit. Zudem stellt sich die Frage, warum er nicht erkennt, dass sich auch der Kalte Krieg in Afrika auf die Strukturen des Kolonialismus stützte. Dafür gelingt es dem Afrikabeauftragten, der Kolonialzeit vor allem auch Positives abzugewinnen:
Es gibt schon Nachwirkungen. Schlimm waren die Sklaventransporte nach Nordamerika. Auf der anderen Seite hat die Kolonialzeit dazu beigetragen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen.
Nun sind wir angekommen, beim Narrativ des "geschichtslosen Kontinents" und seiner rohen und wilden Bewohner, die allesamt durch die europäische Zivilisation aus ihrem immerwährenden Schlaf wachgerüttelt werden mussten – durchaus auch mit strenger väterlicher Hand. Nichts könnte weniger weit von der historischen Realität einer Vielzahl der Völker Afrikas entfernt sein. Kaum eine Aussage könnte die Realität des Kolonialismus auf perfidere Art und Weise auf den Kopf stellen.
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Demgegenüber wendet der Experte für Kolonialismus und die Geschichte Afrikas, Jürgen Zimmerer, ein:
Das Behaupten einer europäischen Zivilisationsmission in Afrika, aber auch in anderen Teilen der Welt, war und ist koloniale Propaganda. Es waren handfeste wirtschaftliche und politische Interessen, die der Kolonisation zugrunde lagen, auch wenn sie sich im Einzelnen vielleicht nicht verwirklichten.
Doch Nooke will mehr, er sieht sich als Vordenker in Sachen Lösung der Migrationsproblematik - der im Übrigen auch die Verwandlung Libyens in einen failed state durch die NATO Tür und Tor öffnete.
Vielleicht ist der eine oder andere afrikanische Regierungschef bereit, gegen eine Pacht ein Stück territoriale Hoheit abzugeben und dort für 50 Jahre eine freie Entwicklung zuzulassen. (…) Investoren könnten Werke bauen und vor Ort produzieren. In Infrastrukturprojekten würden Afrikaner angestellt.
Warum nicht die territoriale Unversehrtheit bewahren und tatsächliche Unterstützung und nicht mehr wirtschaftliche Doppelmoral walten lassen? Und territoriale Hoheit abgeben? An wen? Nooke lässt erkennen, wohin die Reise seiner Ansicht nach gehen sollte. In den geschaffenen "Wirtschaftssonderzonen" könnten "Migranten angesiedelt werden, unterstützt von der Weltbank oder der EU oder einzelnen Staaten". Unterschiedlicher könnten die Visionen Sankaras und Nookes wohl kaum sein.
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