Zum ersten Mal nach ihrem Sommerurlaub und der nur mühsam überstandenen Regierungskrise mit der Schwesterpartei CSU im Streit um die Migrationspolitik stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Dienstag in Jena Fragen von ausgewählten Bürgern. Vorrangig sollte es um deren Erwartungen an Europa gehen. Doch auch während der 90-minütigen Fragerunde standen vor allem wieder die Themen Asyl und Migration im Raum.
Perspektiven für die Jugend
Um die Migration aus Afrika nach Europa zu steuern, warb Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für eine enge Partnerschaft mit Afrika, wobei Vereinbarungen getroffen werden sollen, mit denen "beide Seiten gewinnen".
Wir, weil wir nicht alle Flüchtlinge aufnehmen können und wollen. Und die anderen aber auch, weil sie für ihre Jugend Perspektiven sehen.
Demnach sollten afrikanische Länder Migranten und Flüchtlinge zurücknehmen, die nicht rechtmäßig nach Europa gekommen seien.
Aber wir sind dafür bereit, auch Studienplätze zur Verfügung oder Arbeitsvisa zur Verfügung zu stellen", gab sich die Kanzlerin großzügig.
Auch Ausbildungsplätze in Europa oder in den Herkunftsstaaten seien möglich. Zwar würde es schwierig, solche Vereinbarung durchzusetzen, "denn Afrika hat 53 Länder". Dennoch seien derartige Abkommen wichtig und im eigenen Interesse Europas, "damit sich dieser Kontinent vernünftig entwickelt".
Nicht zuletzt sei zu beachten, dass die Menschen in Afrika auf dem Wege ihrer Smartphones über das Leben in Europa Bescheid wissen.
Von Sizilien aus ist Afrika ziemlich nah.
Doch genau solche Anreize resultieren bislang regelmäßig im von afrikanischen Staaten befürchteten Brain-Drain, der Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte. Soeben erst äußerte sich beispielsweise der britische Ökonom Paul Collier kritisch zur "Verantwortungslosigkeit der europäischen Migrationspolitik" – allen voran der Politik von Angela Merkel, die das Flüchtlingsproblem zunächst lange ignoriert habe, dann "sehr unverantwortlich und einseitig die Türen öffnete" und diese ebenso im Alleingang wieder schloss, um anschließend andere EU-Staaten dazu zu drängen, die von ihr eingeladenen Flüchtlinge aufzunehmen.
Das ist wirklich eine erstaunliche Verantwortungslosigkeit, und so läuft natürlich auch die Europapolitik derzeit aus dem Ruder", so Collier in einem Interview mit der NZZ vom Sonntag.
Der Wirtschaftswissenschaftler hat sich in seinem Buch Exodus: Immigration and Multiculturalism in the 21st Century aus dem Jahr 2013 mit den Ursachen sowie den wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Migration befasst.
Mehr zum Thema - Heuchlerisch, paternalistisch, neokolonial: Afrika als Schwerpunkt der G20-Präsidentschaft
Er unterscheidet zwischen Migration und Flucht, da Flüchtlinge ihre Heimat nicht freiwillig verlassen, sondern vertrieben werden. Auf der anderen Seite stehen Migranten und damit jener Großteil der Weltbevölkerung, dessen berufliche Chancen und Einkommen sich durch Auswanderung enorm verbessern würden.
Darauf hat man aber kein Anrecht. Im Grund ist es sehr traurig, wenn Menschen sich über die Bestrebung definieren, ihr Land zu verlassen. Europa läuft ungewollt Gefahr, genau das mit Afrika zu tun.
Collier arbeitet nach eigenen Angaben zu neunzig Prozent mit afrikanischen Regierungen,
deren Albtraum es ist, dass ihre jungen Menschen allmählich dem Narrativ verfallen, dass ihre Hoffnung in der Auswanderung liege.
Bessere Politiker als in europäischen Staaten - aber im Wettbewerb keine Chance
Beispielsweise arbeite er momentan mit der Regierung von Ghana – "eine sehr gute Regierung; der Präsident, der Vizepräsident und der Finanzminister sind sehr gute Politiker, bessere als die obersten drei der meisten europäischen Länder." Auch das Bruttoinlandsprodukt könne sich mit einem Wachstum um neun Prozent sehen lassen.
Die Regierung leistet gute Arbeit. Aber sie kann auf keinen Fall in diesem Jahr wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen, die besser sind, als einen Job in Europa zu finden – nie und nimmer. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir das Recht hätten, die klügsten und besten jungen Ghanaer und Ghanaerinnen nach Europa zu locken. Sie werden in Ghana gebraucht.
Es sei ein Irrglaube, man tue den Menschen in Afrika einen Gefallen, indem man sie
durch die Worte 'Willkommen in Europa' von ihren wahren Verpflichtungen und Möglichkeiten in Afrika weglockt, damit sie dann frustriert auf den Strassen Roms leben, was viel eher der Realität entspricht.
Afrika müsse für gute Stellen sorgen.
Stattdessen verführen wir Afrikaner und Afrikanerinnen zu Tausenden dazu, in Boote zu steigen. Das ist überaus verantwortungslos und unethisch.
Denn erst, wenn die Menschen aus Afrika erst nach Europa gekommen sind, "erkennen sie die Wahrheit, stecken aber in der Falle".
Collier spricht sich stattdessen dafür aus, dass europäische Unternehmen mithilfe öffentlicher Gelder dazu gebracht werden sollen, in Entwicklungsländerrn Arbeitsplätze anzubieten. Der Vorschlag ist sicherlich nicht unumstritten, auf die Frage danach, inwieweit Europäer dadurch Arbeitsplätze verlieren, geht er nicht ein.
Fehler der Afrikapolitik ausgeblendet
Die Kanzlerin betonte bei der Verteidigung ihrer Afrikapolitik zudem, dass die Bundesregierung in dem afrikanischen Durchgangsland Niger bei der Bekämpfung des Schlepperwesens mittlerweile mit Italien, Frankreich und der Europäischen Kommission zusammenarbeite.
An diesem Mittwoch empfängt die Kanzlerin den Präsidenten der Republik Niger, Issoufou Mahamadou. Dieser soll dabei behilflich sein, die Migration aus Afrika zu stoppen, indem der "Transitstaat" seine Grenzen dicht macht.
Abgesehen davon, dass dies ein logistisch kaum realistisches Unterfangen wäre, spricht sich selbst das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) zugunsten des Handels in Afrika für offene Grenzen aus als eine Voraussetzung, um "Fluchtursachen zu bekämpfen".
Auch das Themenfeld Handel wird bereits als relevant für eine Partnerschaft erkannt, von der beide Seiten profitieren sollen. Erst in der vergangenen Woche forderte Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) die EU auf, ihre Märkte für sämtliche Güter aus Afrika zu öffnen. Damit könne man die Migration Richtung Europa bremsen.
Auch Müller betonte, die EU-Staaten müssten den Afrikanern auch legale Möglichkeiten eröffnen, um in Europa zu arbeiten, und im Gegenzug müsse die EU von den afrikanischen Ländern verlangen, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen.
Der Vorstoß erntete auch Zustimmung vom Koalitionspartner sowie vom Deutschen Bauernverband, welcher darin Potenzial für Beschäftigung in Afrika sieht.
Die Fraktionsvorsitzende der Linken, Sahra Wagenknecht, hingegen forderte einen
Stopp der Ausplünderung der Rohstoffe Afrikas." Die Bundesregierung müsse sich für "fairen Handel und den Schutz der lokalen Landwirtschaft und Fischerei" einsetzen sowie den Aufbau eigener Industrien in Afrika zulassen.
Inwieweit die deutsche oder die europäische Afrikapolitik eine Bremse von hochsubventionierten Billigexporten auf die afrikanischen Märkte plant, blieb zunächst offen.