Sowohl im Kosovo 1999 als auch in Libyen 2011 wurde behauptet, dass die Angriffe der NATO dazu dienen, die Zivilbevölkerung vor Gräueltaten zu beschützen. In beiden Fällen stellte sich im Nachhinein heraus, dass die Kriege auf Lügen aufgebaut waren und der angerichtete Schaden noch viele Jahre später zu spüren sein würde. Selbst das ZDF strahlte im Jahr 2018 eine Dokumentation aus ("Killing Gaddafi – Jagd auf den Diktator"), in der belegt wird, dass der Angriff des "Verteidigungsbündnisses" nichts mit den angegebenen Gründen zu tun hatte, sondern dass es um einen gewaltsamen Regime Change ging.
Nach neun Jahren blutiger Auseinandersetzungen um die Kontrolle in Libyen wird nun erneut die sogenannte Doktrin der Schutzverantwortung (R2P) bemüht, die das Völkerrecht zum Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen vorsieht. Nur sind es diesmal nicht die westlichen Staaten, die sich auf dieses Konzept berufen, sondern der ägyptische Präsident Abd al-Fattah as-Sisi.
In einer Fernsehansprache am Samstag sagte er, dass ein Vormarsch der von der UN anerkannten Einheitsregierung von Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch auf die Hafenstadt Sirte eine "rote Linie" für Kairo darstellt. Sollte sie überschritten werden, droht er mit einem Einmarsch ägyptischer Truppen in das Nachbarland. As-Sisi meinte, dass eine solche militärische Intervention völkerrechtlich legitimiert sei, um die eigenen Grenzen vor der "Bedrohung durch terroristische Milizen" zu beschützen. Nebst dem Schutz der eigenen Grenzen beruft auch er sich auf die R2P-Doktrin, um das "Blutvergießen" zu stoppen und bei der "Unterstützung zur Wiederherstellung von Sicherheit und Stabilität" in Libyen zu helfen.
Dem ägyptischen Präsidenten geht es genauso wenig um den Schutz der Bevölkerung wie bei dem Luftkrieg der NATO vor neun Jahren, mit dem gänzlich andere Absichten verfolgt wurden. Kairo steht auf der Seite des Generals Chalifa Haftar, des großen Widersachers as-Sarradschs in Libyen. Dessen Libysch-Nationale Armee (LNA) kontrollierte bis Ende 2019 einen Großteil des ölreichen Landes und stand kurz davor, die Hauptstadt Tripolis einzunehmen.
Wäre Haftar dies gelungen, hätten Ägypten, Russland und die Vereinigten Arabischen Emirate auf das siegreiche Pferd gesetzt und die Dividende ihrer Investitionen einstreichen können. Doch das robuste Eingreifen der Türkei auf der Seite der Einheitsregierung mit schweren Waffen, Drohnen und Dschihadisten aus Syrien sorgte seit Anfang des Jahres dafür, dass Haftars Belagerungsring um die Hauptstadt Tripolis gesprengt werden konnte und er in der Folge eine Reihe von schweren Niederlagen einstecken musste.
Sämtliche Versuche Ägyptens, eine Waffenruhe mit dem libyschen Ministerpräsidenten auszuhandeln, wurden seitdem abgelehnt. As-Sarradsch – und die Türkei – wollen Haftar nicht die Gelegenheit bieten, sich durch eine Waffenruhe neu zu ordnen und einen Gegenangriff zu planen. Stattdessen rücken seine Kämpfer auf die Hafenstadt Sirte vor, die von Haftar erst Anfang Januar erobert wurde. Wer die Stadt kontrolliert, kann auch die Ölterminals des "Sirte-Beckens", eines der ölreichsten Provinzen der Welt, der Kontrolle Haftars entreißen und ihn weiter zurückdrängen.
Das versuchen dessen Unterstützer möglichst zu verhindern. Der Schutz der Zivilbevölkerung spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Entsprechend eindeutig fiel die Reaktion der Regierung von Ministerpräsident as-Sarradsch nach der Drohung aus Kairo aus. Dies sei ein "feindseliger Akt, eine direkte Einmischung, und kommt einer Kriegserklärung gleich", hieß es am Sonntag in einer Erklärung der Einheitsregierung in Tripolis. Ob as-Sisi seine Drohung wahr macht und tatsächlich militärisch losschlägt, dürfte auch davon abhängig sein, ob er sich die Unterstützung der wichtigsten Gelbgeber und Waffenlieferanten sichern kann.
Mehr zum Thema - Frankreich warnt nach "extrem aggressivem" Manöver vor einem "türkischen Problem" in der NATO