Versuch Nummer Zwei: UN-Sicherheitsrat soll EU-Militäreinsatz gegen Flüchtlingsboote erlauben
Öffentliche Bekenntnisse und Realpolitik könnten nicht weiter auseinanderklaffen: Während sich deutsche und europäische Politiker damit brüsten, in Flüchtlingsheimen und vor inszenierter Kulisse für eine Willkommenskultur für Flüchtlinge zu werben, greift die EU Pläne aus dem vergangenen Mai wieder auf, die vorsehen, Flüchtlingsboote auf den viel befahrenen Routen zwischen Libyen und Südeuropa militärisch zu stoppen. Ein von Großbritannien eingereichter Entwurf, der den militärischen Einsatz auf hoher See vorsieht, liegt dem UN-Sicherheitsrat noch in diesem Monat zur Abstimmung vor. Ziel der EU-Verteidigungsminister ist die Legitimation der Militäroperation durch die Vereinten Nationen.
Wie der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin gestern mitteilte, werden die Vereinten Nationen noch im September im Sicherheitsrat über die sich verschärfende Flüchtlingskrise beraten. Russland führt in diesem Monat den Rat. Im Zentrum der Gespräche steht ein im Mai dieses Jahres entwickeltes und bereits gestartetes Vorhaben der Europäischen Union, Flüchtlingsboote militärisch zu stoppen. Nun soll der Sicherheitsrat weitere Schritte erlauben.
Ein mehrere Stufen umfassender Plan, der neben Überwachung und dem Sammeln von Daten auch das Versenken von Flüchtlingsbooten vorsieht, wurde von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini entwickelt.
Bevor WikiLeaks die Original-Dokumente des Vorhabens veröffentlichte, berichtete die Enthüllungsplattform "The Intercept" über die geplante EU-Offensive. Auch German Foreign Policy und RT Deutsch berichteten frühzeitig von den geplanten Einsätzen.
Mogherinis erstes Konzept sah auch militärische Operationen in libyischen Gewässern und an der libyischen Küste vor. Der britische Guardian schrieb im Mai:
"In diesem Papier werden Luft- und Marineeinsätze im Mittelmeer und in libyschen Hoheitsgewässern fokussiert, wenn die UN ihren Segen dazu gibt. Aber es könnten auch Bodeneinsätze in Libyen selbst nötig werden, um die Boote und Anlagen der Schmuggler zu zerstören."
In einem der beiden Planungs-Dokumente heißt es außerdem: "Der politische Endpunkt [der militärischen Operation] ist nicht klar definiert".
Nachdem die Pläne im Mai öffentlich wurden, formierte sich in Deutschland bereits politischer Widerstand, etwa aus Reihen der Partei Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dies hinderte die EU-Verteidigungsminister jedoch nicht daran, Mogherinis Entwurf anzunehmen und "Phase 1" einzuleiten, heißt: Mit dem Sammeln von logistischen Daten wurde bereits begonnen.
Für die Vorlage vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wurden die Pläne, laut dem russischen UN-Botschafter Witali Tschurkin, nun noch einmal überarbeitet und von Großbritannien eingereicht. So soll vermieden werden, dass auf internationalem Parkett die Zustimmung der libyischen Regierung für den Einsatz eingeholt werden muss. Statt im libyischen Hoheitsgebiet sollen die Flüchtlingsboote nun im internationalen Gewässer militärisch gestoppt werden. Wie zivile Opfer dabei vermieden werden sollen, bleibt unklar. Denn was rechtlich einfacher umzusetzen ist, hat den großen Nachteil, dass die Boote auf hoher See - anders als an Land - natürlich voll besetzt sind.
Aus den an die Öffentlichkeit gelangten Informationen geht zu diesem Zeitpunkt nicht hervor, welche Maßnahmen genau die Operation umfassen soll und ob Mogeherinis äußerst martialischen Pläne militärisch abgemildert wurden. Klar ist allerdings, dass neben sieben Kriegsschiffen auch Drohnen und U-Boote eingesetzt werden sollen.
Das Luxemburger Tageblatt formuliert vage:
"Der Einsatz ist auch Thema beim Treffen der EU-Verteidigungsminister in Luxemburg. Die EU hatte im Mai einen Drei-Stufen-Plan gegen Schleuser beschlossen. Derzeit läuft die erste Phase, in der Informationen über Schleppernetzwerke gesammelt werden.
Ab Oktober sollen in einer zweiten Phase Schiffe von Schleusern gestoppt, beschlagnahmt und womöglich zerstört werden."
Doch selbst wenn die Pläne keine offenen Kampfhandlungen auf hoher See vorsehen, bringen sie fliehende Menschen zusätzlich in Gefahr. Statt den ohnehin schon lebensgefährlichen Routen würden noch schwierigere Fluchtwege erschlossen werden. Die Zahl derer, die auf der Überfahrt sterben, würde unweigerlich noch ansteigen.
Sahra Wagenknecht (Die Linke) kommentiert den erneuten Vorstoß der EU, die Flüchtlingsfrage militärisch zu lösen, auf Facebook:
"Die Verteidigungsminister der EU planen, ihre Militärmission im Mittelmeer auszuweiten. Was für ein Irrsinn! Erst schickt man Waffen und Soldaten und stürzt damit ganze Regionen in Kriege und Bürgerkriege. Dann schickt man nochmals Waffen und Soldaten, um die Menschen, die durch Kriege und Bürgerkriege aus ihrer Heimat vertrieben wurden, zu noch gefährlicheren Fluchtwegen zu zwingen. Ich frage mich: Wann begreifen die hierfür verantwortlichen Politiker in der EU und in Deutschland endlich, dass sie ihre Politik der Militarisierung, Kriegsführung und Destabilisierung beenden müssen, um die Fluchtursachen zu bekämpfen? Solidarität mit Flüchtlingen! Gemeinsamer Kampf gegen Waffenexporte und Militärmissionen!"
In der Tat klafft zwischen öffentlichen Verlautbarungen verschiedener Politiker zur Flüchtlingsproblematik und dem tatsächlichen Handeln der EU eine Lücke, die breiter als die Meeresenge zwischen Nordafrika und Südeuropa ist.