WikiLeaks legt nach: Neue Selektorenliste belegt Komplett-Überwachung der deutschen Regierung
Rund eine Woche nach der ersten Enthüllung von Selektoren mit denen die NSA die deutsche Regierung ausspioniert, legt WikiLeaks nun nach und veröffentlicht einen zweiten Datensatz mit Spähzielen. Diese belegen eine umfassende Überwachung nicht nur von Kanzlerin Angela Merkel persönlich, sondern auch von deren gesamtem Arbeitsumfeld. Auch veröffentlicht WikiLeaks drei weitere Geheimdienstprotokolle aus der stattgefundenen Überwachung. Die Veröffentlichungen zeigen überdies, dass die Spionage der deutschen Regierung durch die NSA offenbar bis in die Kohl-Ära zurückreicht.
Es ist nicht mehr zu leugnen: Die USA behandeln Deutschland wie einen Vasallen. Mittels seines Geheimdienstes NSA betreibt Washington seit Jahrzehnten eine lückenlose Rundumüberwachung der deutschen Regierungen. Dies belegt nun eine zweite Tranche von WikiLeaks gestern veröffentlichter Selektoren. Schon am 1. Juli 2015 hat die Enthüllungsplattform Spähziele der US-Amerikaner in deutschen Regierungskreisen bekannt gemacht. Die neuerlichen Dokumente geben nun Einblick in die Tiefe der Überwachung. Dazu erklärt WikiLeaks:
"Die Liste enthält nicht nur vertrauliche Telefonnummern der Bundeskanzlerin, sondern auch die Nummern ihrer Spitzenbeamten, ihrer Assistenten, ihres Stabschefs, ihres Büros und sogar ihres Fax-Anschlusses. Die gesammelten NSA-Ziellisten, die von WikiLeaks veröffentlicht wurden, belegen die gezielte Langzeit-Überwachung von 125 Telefonnummern deutscher Politiker und Beamter - und zwar aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, wie aus den Kennzeichnungen in den Dokumenten selbst hervorgeht."
So wirkt es nun auch reichlich scheinheilig, dass der US-Präsident Barack Obama Anfang 2014 erklärte, Merkels Handy werde künftig nicht mehr von der NSA abgehört. Weiter heißt es in der Veröffentlichung:
"Die Zielliste enhält fast zwei Dutzend Telefonnummern aus Merkels Büro im Bundeskanzleramt und verdeutlicht, wie eng das Netz der Überwachung um die Bundeskanzlerin gestrickt ist. Die intensive US-Spionage rund um die Bundeskanzlerin macht verständlich, wieso sich das Weisse Haus ohne Probleme bereit erklären konnte, die Überwachung von Merkel selbst einzustellen: eine solche Zusage wird für andere Mitglieder des deutschen Bundestages nicht gegeben - und die Kanzlerin kann die Regierungsgeschäfte nicht nur mit Selbstgesprächen führen."
Neben verschiedener Festnetz-, Fax- und Handynummern der Kanzlerin selbst und ihrer engsten Mitarbeiter, finden sich in der Selektorenliste auch die Anschlüsse des Merkel-Vertrauten Volker Kauder (seit 2005 Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU), Roland Pofalla (bis 2013 Chef des Kanzleramtes), Ernst Uhrlau (bis 2011 Präsident des BND) und Peter Altmeier (derzeitiger Chef des Kanzleramtes und Bundesumweltminister).
Die Daten zur Überwachung des Kanzleramts legen zudem nahe, dass diese mindestens bis in die Zeit der Kanzlerschaft von Helmut Kohl zurückreicht. So wurde auch Bodo Hombach, damals Kanzleramtschef unter Gerhard Schröder, und Dirk Schwenzfeier, bis 1998 persönlicher Referent von Kohls Kanzleramtsminister Anton Pfeifer, abgehört.
Besonders häufig werden jedoch Anschlüsse mit Wirtschafts- und Außenpolitikbezug überwacht, was die Vorwürfe bestätigt, dass die USA auf deutschem Boden im großen Stil Wirtschaftsspionage betreiben und sich gezielt Informations-Vorteile für internationale Verhandlungen verschaffen.
Diese Nutzung der Überwachungsziele belegt WikiLeaks durch die Veröffentlichung von drei weiteren Abhörprotokollen, die Resultat der US-amerikanischen Spionagepraktiken sind. In einem der Protokolle plaudert Angela Merkel im Jahre 2009 mit Kronprinz Shaykh Muhammad bin Zayid al-Nuhayyan aus den Verinigten Arabischen Emiraten und lobt darin die Initiative des damals neu gewählten Präsidenten Barack Obama, den Iranern zu ihrem Neujahrsfest (Nowruz) zu gratulieren. In der Sache wenig brisant, da Merkels positive Beurteilung von Obamas Schritt zur selben Zeit auch in deutschen Zeitungen zu lesen war, doch sehr wohl problematisch in Fällen, in denen Berlin und Washington nicht einer Meinung sind. So etwa im Fall der Bankenrettungen nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers Bank im Jahre 2008.
Hier vertrat Angela Merkel eine andere Sicht als die angloamerikanischen Finanz-Eliten und plädierte offenbar für eine ausgeglichenere Lastenverteilung zwischen Staaten und privaten Banken. Außerdem präferierte Merkel eine Reform des IWF mit stärkerer Einbindung Chinas und scheiterte bei einem Gipfel in London im Jahre 2009 damit kläglich. Kaum verwunderlich, wenn ihre Mitspieler die Verhandlungsposition der Kanzlerin bis ins Detail kennen.
Der WikiLeaks-Herausgeber Julian Assange kritisiert in einer Pressemitteilung außerdem scharf den Generalbundesanwalt Harald Range, der vor rund einem Monat aus angeblichem "Mangel an Beweisen" die Ermittlungen zu den NSA-Spähpraktiken in Deutschland eingestellt hatte, und erklärt:
"Es gibt genügend Beweise für US-Spionage auf deutschem Boden. Es ist an der Zeit, die Untersuchung wieder neu zu eröffnen. Die NSA muss ihre illegalen Aktivitäten gegen Deutschland sofort einstellen."
Jochen Arnzt, Chefredakteur der DuMont-Redaktionsgemeinschaft, wertet die neuen Enthüllungen in der Frankfurter Rundschau indes als "Zerstörtes Vertrauen" und plädiert für eine schonungslose Neubewertung des deutsch-US-amerikanischen Verhältnisses.
Ob diese Appelle im Kanzleramt und bei der deutschen politischen Führungselite Gehör finden, oder ob dort wieder mit den bekannten Unwahrheiten, Verdrehungen, Ausweichmanövern und mit merkel'scher Mauertaktik reagiert wird, werden die nächsten Tage zeigen. Doch auch Berlin sollte klar sein: Wer sich wie ein Vasall verhält, wird auch wie ein Vasall behandelt.