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Warum behandeln westliche Medien den scheiternden obersten General der Ukraine wie einen Filmstar?

Das Interview mit dem "Economist" und der Gastbeitrag von Waleri Saluschny gehören wohl zu den besten Wohlfühlgeschichten, die man aktuell lesen kann. Wenn es nicht so viele Menschenleben gekostet hätte, dann wäre die offen zur Schau gestellte Naivität von Saluschny rührend.
Warum behandeln westliche Medien den scheiternden obersten General der Ukraine wie einen Filmstar?Quelle: www.globallookpress.com

Von Tarik Cyril Amar

General Waleri Saluschny, der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, hat dem Economist, einer bedeutenden Plattform für westliche Kriegstreiberei, ein wichtiges Interview gegeben. Das Magazin publizierte auch seinen Gastbeitrag zum Thema "Moderner Stellungskrieg und wie man ihn gewinnt".

Dies ist nicht das erste Mal, dass die britische Publikation Saluschny groß rausbringt. Die weithin bekannte Bewunderung des Generals für Stepan Bandera, den Führer der ukrainischen Faschisten im Zweiten Weltkrieg, der schreckliche Gräueltaten an Zivilisten verübte, ist für ein Magazin, das von sich behauptet für den Liberalismus einzustehen, selbstverständlich kein Problem. Tatsächlich hat Saluschny stets die Behandlung eines Filmstars genießen können: Gefälligkeitsfragen und schamlose PR-Beiträge, die im Kleid des Journalismus daherkamen. Doch so propagandistisch das Interview im Economist auch ist, es verdient trotz allem Beachtung – wenn man es gegen den Strich liest.

Der erste Punkt ist, dass dieses Interview Teil eines Trends in den westlichen Mainstream-Medien ist. Nachdem das vorhersehbare Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive vom vergangenen Sommer endlich eingeräumt worden ist, ist nun ein Anflug von Realismus erkennbar. Saluschny kann "zugeben" – in den Worten des Economist –, dass der Krieg sich aktuell "in einer Pattsituation" befindet. Während dies immer noch zu optimistisch klingt, während die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer in Wirklichkeit am Verlieren sind, ist das eine Abkehr von seiner bisherigen Haltung.

Im Dezember 2022 behauptete der Economist, dass es im Herbst 2022 einen "triumphalen" Vormarsch der Ukraine gegeben habe, auch wenn das Magazin darauf hinwies, dass noch viele harte Kämpfe bevorstehen. Damit gab der Economist lediglich das damals tagesaktuelle Mainstream-Narrativ wieder. 

Seriöse unabhängige Analysten wie Brian Berletic erklärten damals, weshalb es sich hierbei um eine grobe Fehleinschätzung handelte: Ukrainische Streitkräfte hätten Gebiete im Nordosten der Ukraine zurückerobert, allerdings mit verheerenden Verlusten an Personal und Material. Russland hatte sich taktisch zurückgezogen, erlitt jedoch keinen strategischen Rückschlag. Auf der Lagekarte mag es beeindruckend ausgesehen haben und es mag auch einige russische Blogger verunsichert haben. Aber in Wirklichkeit war das Ganze ein PR-Gag, den sich die Ukraine absolut nicht leisten konnte. Es war genau genommen nicht der "Gegenschlag, der das Blatt im Krieg wendete", wie das US-Magazin Time damals in einem Artikel ausdrückte, und in dem Saluschny liebedienernd gehuldigt wurde. Jetzt, ein Jahr später, gibt es nicht einmal mehr solche unbedeutende Gebietsgewinne, mit denen die Tausende verlorener Menschenleben gerechtfertigt werden könnten.

Bereits im März 2022, wurde von einem "Segen" westlicher Waffen gejubelt. Angesichts dieser "Flut an Waffen", die über Panzer und gepanzerte Kampffahrzeuge hinausging, fabulierte der Economist von einer umfassenden Umgestaltung des ukrainischen Militärs. Auch das widerspricht der militärischen Fachkompetenz: Armeen, selbst Einheiten innerhalb von Armeen, können nicht in diesem Tempo restrukturiert werden. Das ist ein dummer oder unehrlicher Glaube auf dem Niveau eines gigantischen Schwindels. Wegen dieses Glaubens sind jedoch viele Ukrainer jetzt tot, verwundet oder – wenn sie Glück hatten – Kriegsgefangene. Andere haben seit langem offen zugegeben, dass sie auf Taktiken zurückgreifen mussten, die ihnen nicht von der NATO beigebracht wurden, nur um eine Überlebenschance zu haben. Die westlichen Unterstützer der Ukraine – obwohl das Wort Ausnützer das bessere und ehrlichere Wort wäre – beschuldigten die Ukraine unterdessen, "Verluste zu scheuen".

Das bringt uns zurück zu den neuesten – und sehr späten – Erkenntnissen von Saluschny. Der General hat kürzlich festgestellt, dass "die Lehrbücher der NATO und die Überlegungen, die wir gemacht haben, bevor wir die Gegenoffensive lancierten", von der Realität abgekoppelt waren. Diesen Lehrbüchern zufolge, "hätten vier Monate für uns ausreichen müssen, um die Krim zu erreichen, auf der Krim zu kämpfen, von der Krim zurückzukehren, erneut einzudringen und wieder abzuziehen." Saluschny würde sich zu allem "hämisch" äußern, lässt uns der Economist nebenbei wissen. Wenn ich ein ukrainischer Soldat wäre, würde ich diese schräge Ironie nicht zu schätzen wissen. Meine Frage an meinen Oberbefehlshaber wäre, warum er so lange gebraucht hat, das zu begreifen, und was daran so lustig sein soll. Ich würde meutern oder desertieren.

Wenn es nicht so viele Menschenleben gekostet hätte, dann wäre diese offen zur Schau gestellte Naivität von Saluschny rührend. Er brauchte nur zu sehen, wie seine Truppen in jenen Minenfeldern feststeckten, von denen jeder im Voraus wusste, dass sie da sind. Gleichzeitig erwiesen sich die westlichen "Wunderwaffen" als so anfällig für feindliches Abwehrfeuer (wie es vorhersehbar war), dass man zu einer bemerkenswerten Erkenntnis hätte kommen können: So etwas gibt es nicht zum ersten Mal! Dann befahl er "seinem Stab, ein Buch hervorzukramen, das er einmal als Student der Militärakademie gelesen hatte." Der Titel des Buches lautet "Über das Durchbrechen befestigter Verteidigungslinien" und wurde 1941 von dem sowjetischen General Pawel Smirnow veröffentlicht. Darin reflektierte Smirnow seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Dieses Buch erwies sich als relevant, im Gegensatz zu den"Lehrbüchern" der NATO, denen Saluschny zunächst gefolgt war.

Aber ein Happy End gibt es auch hier nicht. Saluschny hat nur eine Reihe von Illusionen durch eine Reihe anderer ersetzt: Jetzt glaubt er, dass das Scheitern der Ukraine – und vor allem auch sein eigenes – in der Gegenoffensive auf eine Pattsituation zurückzuführen sei, die jener des Ersten Weltkriegs ähnelt und die dafür verantwortlich war, das dieser Krieg so lange dauerte. Da moderne Verteidiger dank Satelliten, Drohnen und anderen Technologien im Vorteil sind, verschwenden Angreifer am Ende ihre Männer und Waffen in erfolglosen oder übermäßig kostspieligen Versuchen, nahezu uneinnehmbare Stellungen zu durchbrechen.

Saluschny zieht zwei Schlussfolgerungen: Erstens hat Russland im Wesentlichen dasselbe Problem wie die Ukraine. Zweitens besteht die einzige Möglichkeit, die Pattsituation zu überwinden, darin, weitere moderne Technologien einzuführen, um dem Angreifer gegenüber dem Verteidiger wieder mehr Schlagkraft zu verleihen. Tatsächlich vertraut der Mann, der sich überrascht zeigt, dass die bereits existierenden westlichen Waffen keine "Wunderwaffen" sind, nun auf noch mehr "Wunderwaffen" – auf solche, die noch entwickelt werden müssen.

Beide Schlussfolgerungen von Saluschny sind schlimme Fälle von Wunschdenken. Tatsächlich liegt er so offensichtlich falsch, dass man nicht umhin kommt, sich daran zu erinnern, dass dies der Mann ist, der offen zugibt, dass er an die "Lehrbücher" und "Überlegungen" der NATO geglaubt hat, bis er zusehen musste, wie seine Soldaten scharenweise zu Tode kamen.

Es stimmt zwar, dass Russland auch erhebliche Verluste erleidet, wenn es relativ große, konzentrierte Offensivoperationen lanciert. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es sich hier um einen Zermürbungskrieg handelt, wie sowohl Saluschny als auch der Economist zugeben mussten. Aber es geht noch weiter: Die Zermürbung wird stets vom stärkeren Gegner – in diesem Fall Russland – gegen den schwächeren Gegner ausgeübt – in diesem Fall die Ukraine. Sogar Saluschny gibt zu, dass ein technologischer Durchbruch, der den ukrainischen Streitkräften auf magische Weise wieder Schlagkraft verleihen würde, bestenfalls in weiter Ferne liegt und der Krieg sich daher zwangsläufig in die Länge ziehen wird. Doch da es eine Grenze für die Zermürbung gibt, die eine Armee verkraften kann, bevor sie aufgeben muss oder auseinanderfällt, hat die Ukraine eigentlich keine Zeit, darauf zu warten, dass Saluschnys neue Träume von "Wunderwaffen der Zukunft" wahr werden –  falls sie das überhaupt jemals werden.

Natürlich nutzt Saluschny seinen jüngsten Auftritt im Economist, um noch einmal nach mehr westlichen Waffen zu fordern, um die Lücke zwischen der katastrophalen Gegenwart und seiner imaginären Zukunft zu schließen. Aber in Wirklichkeit schwindet Kiews lebenswichtige und unverzichtbare Unterstützung aus dem Westen, während Washington durchsickern lässt, dass es Druck auf Selenskij ausübt, damit dieser im Wesentlichen die Fahnen streckt. Hier passt nichts zusammen. Das Denken von Saluschny ist ein Durcheinander, das erneut blutig werden wird.

Zweitens ist es erstaunlich, dass Saluschny immer noch nicht der einfachen Tatsache ins Auge sehen kann, dass auch Russland ständig dazulernt, sich anpasst und massenhaft Waffen produziert. Es gibt kein glaubwürdiges Szenario, in dem Moskau aus irgendeinem Grund technologisch stillstehen würde, während es von der Ukraine überholt wird. Tatsächlich hätte die Beobachtung, dass Russland auch ein Problem damit hat, groß angelegte Angriffe zum Durchbruch zu bringen und strategische Ergebnisse zu erzielen, Saluschny sofort sagen sollen, dass sicherlich auch Russland an der Lösung dieses Problems arbeitet. Und im Gegensatz zur Ukraine verfügt Russland über die Wirtschaftskraft, die es mit allem versorgt, was es zur Umsetzung seiner Pläne benötigt. Russland hat zudem ebenfalls Verbündete. Ob der Oberbefehlshaber der Ukraine es bemerkt hat oder nicht, der Versuch des Westens, Moskau zu isolieren und durch einen Wirtschaftskrieg zu Fall zu bringen, hat nicht besser geklappt als die Gegenoffensive der Ukraine.

Drittens übersieht Saluschny zwei weitere Möglichkeiten, die dem russischen Militär zur Verfügung stehen, um voranzukommen. Von denen die eine jetzt zunehmend angewendet wird, während die andere Möglichkeit eine ist, die ihm Angst einjagen könnte: Zu diesem Zeitpunkt beschäftigen die russischen Streitkräfte den größten Teil der Kontaktlinie mit vergleichsweise eingeschränkten Operationen und Vorstößen. Diese führen zwar nicht zu plötzlichen Durchbrüchen, aber sie schwächen kontinuierlich die Positionen der Ukrainer und verbessern jene der Russen. In Zukunft könnte ein Teil des so gewonnenen Bodens auch als Startrampe für einen Großangriff dienen, der groß genug ist, um die geschwächte, erschöpfte Verteidigung der Ukraine an mehr als einer Stelle zu überlasten. Glaubt Saluschny wirklich, dass seine unverzeihlich späten Erkenntnisse über die Natur des Ersten Weltkriegs und die schlecht durchdachten Analogien, die er darauf aufbaut, in diesem Fall viel helfen werden?

Wie in Hollywood-Filmszenen in Besprechungsräumen gerne gefragt wird: Was sehen wir hier? Die einfache Erklärung für diese Zurschaustellung von Realitätsferne ist Verzweiflung und eine gewisse Einfalt des Geistes. Vielleicht sind sowohl Saluschny als auch seine Fans beim Economist ja so verzweifelt, dass sie unter diesen Umständen eine der besten Wohlfühlgeschichten zusammengestellt haben, die man aktuell lesen kann. Und das Ergebnis ist selbstschädigend und minderwertig.

Übersetzt aus dem Englischen.

Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.

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